Die Hurenkönigin (German Edition)
obgleich ihr die Knie zitterten und das Herz bis zum Halse schlug, erklärte sie dem Obergassenmeister gefasst: »Gut, ich bin dann so weit!«
Keiner der Anwesenden beneidete sie um diesen Gang.
»Meistersen, ich komme mit Euch«, entschied Josef spontan, was ihm die Zimmerin nicht abschlagen mochte. Flankiert von den beiden Männern verließ die Hurenkönigin, deren rotes Haar ihr noch ungebändigt über die Schultern fiel, mit schweren Schritten das Frauenhaus. Draußen war alles in das strahlende Licht der Morgensonne getaucht, und das Blau des Himmels wurde durch kein Wölkchen getrübt. Ursels Blick fiel auf die duftenden Kletterrosen, die sich um den Dempelbrunnen rankten. Was für ein herrlicher Tag, dachte sie, und doch fühlte sie sich so elend, als ginge sie zu ihrer eigenen Beerdigung. Bei dem Gedanken daran, dass die Tote, die sie gleich sehen würde, womöglich Rosi war, hätte sie heulen mögen. Doch sie verbot sich jeglichen Gefühlsausbruch und bemühte sich verbissen um Standhaftigkeit, um der bevorstehenden Leichenschau gewachsen zu sein.
»Wo … wo müssen wir denn hin?«, erkundigte sie sich bei dem Leiter der Sittenpolizei, während die feindseligen Blicke der Passanten an ihr abprallten wie an einer Festung.
»Es ist schon noch ein Stück«, erwiderte Rack mit Blick auf ihr bleiches Gesicht. »Wir müssen zum Bahrhaus auf dem Peterskirchhof. Dort haben die Stangenknechte sie hingebracht. Schafft Ihr das denn, Zimmerin?«
Ursels Mund war so trocken, dass sie kaum noch schlucken konnte, und sie hatte einen Kloß im Hals. Mühsam brachte sie heraus, dass alles in Ordnung sei. Als Josef, der vernehmlich schnaufend an ihrer Seite schritt, sie daraufhin unterhakte, ließ sie es geschehen und stützte sich dankbar auf seinen muskulösen Unterarm.
Schweigend liefen sie über die Zeil und bogen in die Schäfergasse ein, die direkt zum Friedhof führte. Während Ursel hinter den beiden Männern durch die Friedhofspforte trat, musste sie an die Beisetzung der Gildeschwester Hildegard Dey denken, die letztes Jahr ermordet worden war. Ein Schauder überlief sie.
Der Stadtphysicus Doktor Schütz öffnete ihnen die Tür zur Leichenhalle. Ein süßlicher Verwesungsgeruch schlug den Besuchern aus dem Innern entgegen, und jeder von ihnen hatte mit plötzlicher Übelkeit zu kämpfen, was den wachsamen Augen des Arztes nicht entging. Er begrüßte die Ankömmlinge, insbesondere die Hurenkönigin, mit einem festen Händedruck, gehörten doch die Gildemeisterin und die Bewohnerinnen des städtischen Frauenhauses schon seit vielen Jahren zu seinen Patientinnen.
»Bevor wir uns der Leiche zuwenden, nehmt ihr erst ein bisschen Theriak«, beschied der grauhaarige Medicus die Zimmerin in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, und holte aus seinem Felleisen eine braune Glasphiole hervor.
Ursel zögerte, sie schien mit sich zu ringen. Ihre dunklen Augen blickten wie gehetzt, doch schließlich willigte sie ein und ließ sich das Medikament verabreichen. Nachdem der Arzt auch dem Frauenhausknecht Josef, dessen Gesicht so wächsern war wie das der Hurenkönigin, ein paar Tropfen des opiumhaltigen Heilmittels eingegeben hatte, folgten sie Doktor Schütz zu der aufgebahrten Frauenleiche, die mit einem weißen Leinentuch bedeckt war.
Der Doktor trat an das Kopfende und richtete mit ernster Miene das Wort an die Zimmerin: »Meines Erachtens könnte es sich bei der Toten durchaus um die vermisste Hübscherin Roswitha handeln, soweit man das in Anbetracht der … der Verstümmelungen überhaupt beurteilen kann. Aber Ihr kanntet sie ja weitaus besser und werdet sie vielleicht anhand von Eigenheiten, die ihr … noch geblieben sind, erkennen können. Wie auch immer, Ihr müsst jetzt sehr stark sein, liebe Zimmerin, denn sie ist übel zugerichtet.«
Doktor Schütz hob das Laken an und legte den Kopf der Leiche frei.
Die Hurenkönigin biss sich auf das untere Gelenk ihres Zeigefingers, um nicht vor Entsetzen laut aufzuschreien. Das, was sie sah, war kaum noch als menschliches Gesicht zu erkennen, anstelle der Nase war nur ein blutiger Knorpel auszumachen, und die Ohren waren ebenfalls abgeschnitten. Der Mund wirkte wie eine klaffende Wunde, und auf der brauenlosen Stirn mit dem ausrasierten Haaransatz prangten vier blutverkrustete Buchstaben. Wie durch einen Nebelschleier hindurch gewahrte Ursel die Grübchen in den eingesunkenen Wangen, die Rosi einmal eigen gewesen waren, und sie konnte nicht mehr länger an
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