Die Hurenkönigin (German Edition)
Verwesungsprozess bereits eingesetzt«, erläuterte er und wies auf die bläulichen Verfärbungen, die den Leichnam überzogen. »Woran natürlich auch die Sommerhitze Schuld trägt. Dennoch kann man davon ausgehen, dass der Todeszeitpunkt mindestens zwölf Stunden, keinesfalls jedoch vierundzwanzig Stunden zurückliegt, sonst wäre der Bauch von den Leichengasen schon wesentlich weiter aufgetrieben. Geht Ihr mit meiner Ansicht konform, Kollegae?« Der Medicus blickte die beiden Stadtärzte fragend an.
»Durchaus, mein lieber Schütz«, bemerkte der hakennasige Doktor Goy. »Wenn die Frau vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen hätte, dann wäre sie doch bei diesen Temperaturen schon der reinste Schwamm.«
Nachdem auch Doktor Schwind nichts einzuwenden hatte, streifte Doktor Schütz die Hurenkönigin, die bleich, aber gefasst am Fußende der Bahre stand, mit einem prüfenden Blick und fuhr mit der Visitation fort.
»Gut, fangen wir also mit dem Kopf an.« Er fuhr mit den Fingern durch die angekohlten Haarbüschel der Toten. »Die Haare wurden vermutlich mit einem glühenden Messer oder einer Schere abgesengt.«
Die Hurenkönigin spürte, wie ihr die Knie weich wurden, doch sie bemühte sich um Beherrschung. Nein, sie würde diesen Doktoren, die sie mit kühlen Blicken musterten, nicht den Gefallen tun und umkippen, beschied sie sich mit aller Strenge und zwang sich dazu, Haltung zu bewahren – was ihr beileibe nicht leichtfiel, denn Doktor Schütz wandte sich nun den beiden roten Kratern zu, wo sich früher einmal Rosis Ohren befunden hatten.
»Die Ohrmuscheln wurden wahrscheinlich mit einem scharfen Messer abgetrennt, wie man an den glatten Schnittflächen am verbliebenen Gewebe erkennen kann. Bei Tierfraß würden die Wundränder zerfledderter aussehen. Das Gleiche gilt auch für den abgetrennten Nasenknorpel.« Doktor Schütz wies auf den noch verbliebenen Nasensattel. »Das geronnene Blut im Bereich der Wunden deutet darauf hin, dass das Massaker noch später geschehen ist. Möglicherweise hat der starke Blutverlust auch zum Tode geführt. Es steht demnach zweifelsfrei fest, dass die Amputationen nicht post mortem durchgeführt wurden, sondern zu Lebzeiten des Opfers. Was in Anbetracht der höllischen Schmerzen, die die Abtrennungen beim Opfer verursacht haben, als eine äußerst bestialische Tat eingestuft werden muss … Außerdem ist davon auszugehen, dass sie an ein Halseisen gekettet war.« Der Arzt deutete auf einen dunkelviolett verfärbten Streifen am Hals der Toten.
Bei aller Selbstbeherrschung konnte es Ursel nicht verhindern, dass ihre Atemzüge immer hektischer wurden. Sie hatte das Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen weggezogen, sie begann zu schwanken. Erneut richtete sich die Aufmerksamkeit der versammelten Herren auf sie.
»Geht es noch, Zimmerin?«, fragte Doktor Schütz und rückte ihr einen Holzhocker hin, auf dem sich die Hurenkönigin ächzend niederließ.
»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte sie mit schwacher Stimme. Sie bebte am ganzen Körper.
»Muss es denn sein, dass ein Laie bei einer Leichenschau anwesend ist?«, fragte Doktor Goy mit unduldsamer Miene. »Früher oder später kippt sie uns doch um«, murrte er, an Doktor Schütz gewandt. Dieser wollte gerade etwas darauf erwidern, doch die Hurenkönigin kam ihm zuvor.
»Ich danke den Herren Doktoren und dem Herrn Untersuchungsrichter, dass Sie mir erlaubt haben, der Leichenschau beizuwohnen, und ich kann versichern, ich stehe das durch. Auch wenn es mir verständlicherweise sehr nahegeht, dass man einer Frau, die viele Jahre zu meinen Schützlingen gehörte, so etwas Schreckliches angetan hat. Ich möchte die Herren daher um eine gewisse Nachsicht bitten, verspreche aber, keine Umstände zu machen.« Die Zimmerin schien die Doktoren überzeugt zu haben, denn es kamen keine weiteren Einwände mehr.
»Wenn ich etwas anmerken dürfte«, meldete sich plötzlich der hagere Untersuchungsrichter Lederer zu Wort. »Ich meine, was das Abtrennen von Ohren und Nase anbetrifft.« Alle blickten ihn abwartend an. »In vielen deutschen Städten werden verbrecherische Huren nämlich damit bestraft, dass man ihnen die Nase und die Ohren abschneidet. Und die da, das ist ja auch eine Hure.« Er deutete despektierlich auf die Tote.
Die Hurenkönigin gab ein entrüstetes Schnauben von sich. »Wollt Ihr damit etwa zum Ausdruck bringen, dass ›die da‹ nichts Besseres verdient hat?«, zischte sie, und ihre Augen verengten sich zu
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