Die Hurenkönigin (German Edition)
sich an wie Schreie, die von weit her zu kommen schienen.
»Es kommt von dahinten«, murmelte Bernhard und eilte auf die vorletzte Tür in der Gewölbewand zu. Er drückte die Klinke, doch die Tür war verschlossen. Als der Henker daraufhin wieder in Stellung ging und mit seiner wuchtigen Schulter die Tür aufbrechen wollte, hielt Bernhard ihn zurück.
»Moment, das haben wir gleich«, erklärte er und eilte zu Schwester Theodora, die noch immer ohnmächtig auf dem Kellerboden lag. Er beugte sich zu ihr hinab und fand den Schlüsselbund an ihrem Gürtel. Mit einem kurzen, kräftigen Ruck riss er ihn ab und hastete zurück zu Ursel und dem Scharfrichter, die vor der Tür auf ihn warteten.
Der dritte Schlüssel passte schließlich, und die Tür öffnete sich knarrend nach innen. Die Schreie waren nun deutlicher zu vernehmen, es waren Hilferufe, die von unten kamen. Der Henker leuchtete über den Boden. An der Seite war eine hölzerne Falltür zu erkennen, die mit Eisenstreben versehen war. Unweit davon lehnte eine Leiter an der Wand. In den Lukendeckel war ein Eisenring eingelassen, Meister Jerg packte ihn und riss die Falltür auf.
Die Hurenkönigin und Bernhard traten neben ihn an den Rand des Loches und spähten hinab in das höhlenartige Verlies, aus dem ein verzweifeltes Wimmern zu vernehmen war. »Ingrid?«, rief Ursel alarmiert, doch es kam keine Antwort. Der Gestank von menschlichen Exkrementen und Erbrochenem verschlug ihr fast den Atem. Im Fackelschein gewahrte sie unter sich drei Frauen, die ihnen flehend die Arme entgegenstreckten und augenscheinlich in einem jämmerlichen Zustand waren. Der Hurenkönigin stiegen bei ihrem Anblick die Tränen in die Augen.
»Wir holen euch hier raus«, stieß sie hervor und trat ein Stück zur Seite, während Bernhard und der Henker die Leiter hinabließen und nach unten kletterten. Ursel folgte ihnen auf wackligen Beinen. Schluchzend sanken die Frauen ihren Befreiern in die Arme. Ihre kurzen Haare waren verfilzt und wirkten wie abgesengt. Sie trugen härene Büßergewänder.
Genau wie Rosi, ging es der Hurenkönigin durch den Sinn, und ihr blieb fast das Herz stehen. »Wo … wo ist Ingrid?«, murmelte sie mit bebender Stimme, während sie den Frauen beruhigend über den Kopf strich.
»Sie ist wahrscheinlich noch im Karzer«, presste eine der Frauen mit tränenerstickter Stimme hervor, während sie sich wie eine Ertrinkende an die Hurenkönigin klammerte. »Wer renitent ist, wird in den Karzer gesperrt. Wir waren alle schon mal da drin. Es ist schrecklich! Man fühlt sich wie lebendig begraben.« Nachdenklich fuhr sie fort: »Am Anfang hat man sie noch schreien hören, doch inzwischen ist es ruhiger geworden. Vielleicht ist sie ja doch schon wieder draußen?«
Der Zimmerin stockte der Atem. »Wo ist dieser Kerker?«, fragte sie beklommen. »Wir müssen sie unbedingt daraus befreien.«
»Ich weiß nicht so genau«, stammelte die Frau. »Irgendwo hier unten …«
Bernhard richtete sich auf. »Wir benötigen Verstärkung. Ich hole die Stangenknechte«, erklärte er entschlossen und blickte sich suchend in dem Gewölbe um. »Wir brauchen noch ein zusätzliches Licht, ich kann euch ja nicht hier im Dunkeln zurücklassen.«
»Hier ist eine weitere Fackel«, sagte der Henker, nahm eine erloschene Teerfackel aus der Wandhalterung, entzündete sie und reichte sie Bernhard.
»Beeil dich bitte!«, ermahnte ihn Ursel eindringlich, als er die Leiter hochkletterte. »Jede Minute zählt …«
»Ich gehe nach oben und helfe den Frauen beim Hinaufsteigen«, schlug der Henker vor.
Die Hurenkönigin nickte. »Und ich bleibe hier unten und kann euch stützen, dann müsste es schon gehen.« Sie half den Frauen, sich aufzurichten. Eine von ihnen war besonders schwach, sie konnte sich kaum auf den Beinen halten.
»Wie lange hält man euch hier schon gefangen?«, fragte die Zimmerin die junge Frau.
Diese lachte bitter und murmelte: »Wenn ich das nur wüsste! Hier unten im Dunkeln verliert man doch jedes Zeitgefühl. Jedenfalls bin ich von uns allen schon am längsten hier. Die Gertrud und die Marie sind erst kürzlich dazugekommen. – Was für einen Tag haben wir heute?«
»Wir haben heute Dienstag, den zweiten August 1511«, erwiderte die Zimmerin.
Die junge Frau schüttelte fassungslos den Kopf mit den versengten Haarbüscheln. »Was?«, murmelte sie. »Dann bin ich ja erst gute zwei Wochen hier unten. Es kommt mir viel länger vor. Fast wie eine Ewigkeit …« Ihr
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