Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
eine dunkle, schwer verdaubare Masse, anders als die leicht als solche zu erkennende Kuh, die Historiker aus großer Ferne sehen.
    Mein Leben war Heaven's Gate und die Anforderungen, die dort von Minute zu Minute ans Überleben gestellt wurden. Der Himmel bestand stets aus einem ewigen braungelben Sonnenuntergang und hing wie eine einstürzende Decke stets nur wenige Meter über meiner Hütte. Meine Hütte war seltsam gemütlich: ein Tisch zum Essen, eine Pritsche zum Schlafen und Ficken, ein Loch zum Pissen und Scheißen und ein Fenster zum stummen Hinausgaffen. Meine Umwelt spiegelte meinen Wortschatz wider.
    Gefängnis ist für Schriftsteller stets ein guter Aufenthaltsort gewesen, tötet es doch die beiden Dämonen Beweglichkeit und Ablenkung, und Heaven's Gate bildete da keine Ausnahme. Dem Atmosphärischen Protektorat gehörte mein Körper, aber mein Verstand – oder was noch davon übrig war – gehörte mir.
    Auf der Alten Erde verfaßte ich meine Gedichte mit einem Komlog-Gedankenprozessor Marke Sadu-Dekenar, während ich auf einem Polstersofa lag, mit meiner EM-Barke über dunklen Lagunen schwebte oder versonnen durch duftende Haine lustwandelte. Die nichtswürdigen, undisziplinierten, lahmarschigen, aufgeblähten Produkte dieser Zeit habe ich schon beschrieben. Auf Heaven's Gate fand ich heraus, was für ein geistiger Stimulus körperliche Arbeit sein kann; nicht nur körperliche Arbeit, sollte ich hinzufügen, sondern Schufterei, die einem den Rücken brach, die Lungen zerriß, die Eingeweide zerfetzte, die Gelenke kaputt machte und die Knochen zerschlug. Aber wenn die Aufgabe monoton und immer gleich ist, fand ich heraus, steht es dem Denken nicht nur frei, Grate der Phantasie zu erforschen, es fliegt geradezu zu geistigen Höhen.
    Und so kam es, daß ich auf Heaven's Gate, wo ich unter dem roten Blick von Wega Primo Dreck aus den Schlammkanälen schippte oder auf Händen und Knien durch Stalaktiten und Stalagmiten der Atmungsbakterien in den labyrinthartigen Lungenröhren der Station kroch, wahrhaftig zum Dichter wurde.
    Mir fehlten nur die Worte.
     
    Der angesehenste Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, William Gass, hat einmal in einem Interview gesagt: »Worte sind die höchsten Objekte. Sie sind geistige Dinge.«
    Das sind sie. So rein und transzendent wie jeder Einfall, der je einen Schatten in Piatos dunkle Höhle unserer Wahrnehmung geworfen hat. Aber sie sind auch Fallgruben von Täuschung und Fehlinterpretation. Worte beugen unser Denken zu endlosen Pfaden der Selbsttäuschung, und die Tatsache, daß wir den größten Teil unseres geistigen Lebens in aus Worten erbauten Gehirn-Villen verbringen, bedeutet letztlich, daß uns die Objektivität fehlt, die schrecklichen Verzerrungen der Wirklichkeit zu sehen, welche die Sprache mit sich bringt. Beispiel: Das chinesische Schriftzeichen für ›Ehrlichkeit‹ ist ein zweiteiliges Symbol, das eines Mannes, der buchstäblich neben seinem Wort steht. So weit, so gut. Aber was bedeutet das Wort ›Integrität‹? Oder ›Vaterland‹? Oder ›Fortschritt‹? Oder ›Demokratie‹? Oder ›Schönheit‹? Doch auch in unserer Selbsttäuschung werden wir zu Göttern.
    Ein Philosoph und Mathematiker namens Bertrand Russell, der im selben Jahrhundert lebte und starb wie Gass, hat einmal geschrieben: »Sprache dient nicht nur dazu, Gedanken auszudrücken, sondern Gedanken möglich zu machen, die ohne sie gar nicht existieren könnten.« Dies ist die Essenz des kreativen Genies der Menschheit: Weder die Errungenschaften der Zivilisation noch die Waffen, mit denen man sie vernichten kann, sondern die Worte, die neue Konzepte befruchten wie Spermienzellen, die ein Ovum angreifen. Man könnte behaupten, die siamesischen Zwillinge Wort/Idee sind die einzigen Beiträge zum ausufernden Kosmos, welche die Menschheit beisteuern kann, will, sollte. (Ja, unsere DNS ist einmalig, aber die eines Salamanders auch. Ja, wir schaffen Bauwerke, aber das machen auch Tiere, vom Biber bis zu den Baumeisterameisen, deren Schöpfungen gerade eben von der Backbordreling aus zu sehen sind. Ja, wir weben echte, wirkliche Dinge aus dem Traumfaden der Mathematik, aber das ganze Universum ist mit Arithmetik verkabelt. Zieht einen Kreis und Pi springt heraus. Dringt in ein neues Sonnensystem ein und Tycho Brahes Formeln warten unter dem schwarzen Samtmantel von Raum und Zeit. Aber wo hat das Universum ein Wort unter seinen äußeren Schichten von Biologie, Geometrie und

Weitere Kostenlose Bücher