Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Fleisch keine homosexuelle Komponente, daher äußerten sich seine Eskapaden entweder als Abwesenheit von unseren Unterrichtsstunden oder unangemessener Aufmerksamkeit beim Auswendiglernen von Versen Ovids, Seneshs oder Wus.
Er war ein ausgezeichneter Lehrmeister. Wir studierten die Altvorderen und die Klassiker, unternahmen Ausflüge zu den Ruinen von Athen, Rom, London und Hannibal, Missouri, und wir machten nicht einmal einen Test oder eine Fragestunde. Don Balthasar erwartete, daß ich alles beim ersten Mal auswendig lernte, und ich enttäuschte ihn nicht. Er überzeugte meine Mutter, daß die Fallgruben progressiver Ausbildung‹ nichts für eine Familie der Alten Erde waren, daher lernte ich die gedanklichen Abkürzungen von RNS-Operationen, Datensphärenimmersion, systematischem Flashbacktraining, stilisierten Begegnungstruppen, gesteigertem Denkvermögen auf Kosten von Fakten und Präliteratprogrammierung gar nicht erst kennen. Als Folge dieser Mängel konnte ich mit sechs Jahren Fitzgeralds Übersetzung der Odyssee vollständig aufsagen, konnte eine Sestina komponieren, bevor ich mich selber anziehen konnte, und in spiralförmigen Fugenversen denken, bevor ich überhaupt Kontakt mit einer KI hatte.
Meine wissenschaftliche Ausbildung dagegen war alles andere als gründlich. Don Balthasar hatte wenig bis gar kein Interesse für ›die mechanische Seite des Universums‹ wie er sich ausdrückte. Ich war zweiundzwanzig, bis mir klar wurde, daß Computer, RMUs und Onkel Kowas Lebenserhaltungssysteme auf dem Asteroiden Maschinen waren und nicht gütige Manifestationen der Animas um uns herum. Ich glaubte an Feen, Waldnymphen, Numerologie, Astrologie und die Magie der Mitsommerwende in den primitiven Wäldern des NAN. Wie Keats und Lamb in Haydons Studio, so brachten auch Don Balthasar und ich Trinksprüche auf ›den Irrweg der Mathematik‹ aus und beklagten, daß M. Newtons Prisma dem Regenbogen seinen Zauber genommen hatte. Mein anfängliches Mißtrauen und regelrechter Haß auf alles Wissenschaftliche und Klinische hat mir im späteren Leben gute Dienste geleistet. Ich habe herausgefunden, daß es in der postwissenschaftlichen Hegemonie keine Kunst ist, ein vorkopernikanischer Heide zu sein.
Meine ersten Gedichte waren abscheulich. Aber wie alle schlechten Dichter, merkte ich selbst das nicht und wiegte mich sicher in der arroganten Überzeugung, daß allein der schöpferische Akt den wertlosen Knüttelversen, die ich hervorbrachte, einen gewissen Wert verlieh. Meine Mutter blieb auch dann noch tolerant, als ich anfing, übelriechende kleine Häufchen Pennälerlyrik im ganzen Haus herumliegen zu lassen. Sie war stolz auf ihr einziges Kind, auch wenn dieses so zügellos wie ein nicht stubenreines Lama war. Don Balthasar sagte nie etwas zu meinen Werken; wahrscheinlich deshalb, denke ich, weil ich sie ihm nie gezeigt habe. Don Balthasar war der Meinung, der ehrwürdige Daton wäre ein Scharlatan, Salmud Brevy und Robert Frost hätten sich an ihren eigenen Eingeweiden aufhängen sollen, Wordsworth sei ein Depp gewesen und alles außer Shakespeares Sonetten wäre eine Beleidigung der Sprache. Ich sah keinen Grund, Don Balthasar mit meinen Versen zu behelligen, wußte ich doch, daß sie von knospendem Genie erfüllt waren.
Mehrere dieser kleinen literarischen Kothäufchen veröffentlichte ich in den verschiedenen gedruckten Magazinen, die zu der Zeit in den verschiedenen Arkologs der Europäischen Häuser so en vogue und deren Amateurlektoren so vernarrt in meine Mutter waren wie diese in mich. Gelegentlich drängte ich Amalfi oder einen anderen Spielkameraden – nicht so aristokratisch wie ich und daher mit Zugriff zur Datensphäre oder Fatlinetransmittern – dazu, einige meiner Verse zum Ring oder dem Mars zu übermitteln, und damit zu den aufblühenden Farcasterkolonien. Sie antworteten nie. Ich ging davon aus, daß sie zu beschäftigt waren.
Vor dem Säuretest der Veröffentlichung an die eigene Identität als Dichter oder Schriftsteller zu glauben, das ist so naiv und harmlos wie der jugendliche Glaube an die eigene Unsterblichkeit ... und die unausweichliche Desillusionierung ebenso schmerzlich.
Meine Mutter starb mit der Alten Erde. Etwa die Hälfte der Alten Familien blieb während der letzten Katastrophe; ich war zwanzig und hatte meine eigenen romantischen Pläne gemacht, mit dem Heimatplaneten zu sterben. Mutter entschied anders. Aber nicht mein vorzeitiges Ableben bekümmerte sie – sie
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