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Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gefühllosem Fels versteckt?) Selbst die Spuren von anderem intelligentem Leben, die wir gefunden haben – die Luftschiffer auf Jupiter II, die Labyrinthbauer, die Seneschalempathen auf Hebron, die Strichmenschen von Durulis, die Architekten der Zeitgräber, das Shrike selbst –, haben uns Geheimnisse und obskure Gegenstände hinterlassen, aber keine Sprache. Keine Worte.
    Der Dichter John Keats hat einmal an einen Freund namens Bailey geschrieben: »Ich bin nur gewiß, daß die Zuneigung des Herzens heilig und die Phantasie wahr sind. – Was die Phantasie als Schönheit anerkennt, muß wahr sein – ob es vorher existiert hat oder nicht.«
    Der chinesische Dichter George Wu, der im letzten japanisch-chinesischen Krieg etwa drei Jahrhunderte vor der Hegira gestorben ist, hat das begriffen, als er in seinem Komlog vermerkt hat: »Dichter sind die närrischen Hebammen der Wirklichkeit. Sie sehen nicht, was ist oder was sein kann, sondern was werden muß.« Später sagte Wu auf der letzten Disk an seine Geliebte, eine Woche vor seinem Tod: »Worte sind die einzigen Kugeln im Patronengurt der Wahrheit. Und Dichter sind die Scharfschützen.«
    Ihr seht, am Anfang war das Wort. Und das Wort wurde Fleisch im Gespinst des menschlichen Universums. Und nur der Dichter kann dieses Universum vergrößern und Abkürzungen zu neuen Wirklichkeiten finden, so wie der Hawking-Antrieb Tunnel unter die Barrieren des Einstein'sehen Raum/Zeit-Gefüges gräbt.
    Um Dichter, ein wahrer Dichter, zu werden, wurde mir klar, mußte man zum Avatar der Inkarnation der Menschheit werden; den Mantel der Poesie zu akzeptieren heißt, das Kreuz des Menschensohnes zu tragen, die Geburtswehen der Seelenmutter der Menschheit zu erleiden.
    Ein wahrer Dichter zu sein heißt, Gott zu werden.
     
    Ich versuchte, meinen Freunden auf Heaven's Gate das zu erklären. »Pisse, Scheiße«, sagte ich. »Arschloch Wichser gottverdammt Scheiße gottverdammt. Fotze. Pipi Fotze. Gottverdammt!«
    Sie schüttelten den Kopf und lächelten und gingen weg. Große Dichter werden zu Lebzeiten selten verstanden.
    Die braungelben Wolken regneten Säure auf mich herab. Ich watete bis zu den Oberschenkeln in Schlamm und entfernte Egelgras aus den Abwasserrohren der Stadt. Schlammsack starb während meines zweiten Jahrs, als wir alle an dem Projekt arbeiteten, den First Avenue Kanal bis zu den Midsump-Schlammflächen fortzuführen. Ein Unfall. Er kletterte auf eine schmale Düne, um eine einzige Schwefelrose vor dem anstürmenden Bulldozer zu retten, als es zu einem Erdrutsch kam. Kiti hat kurz danach geheiratet. Sie arbeitete immer noch gelegentlich als Hure, aber ich sah sie immer seltener. Sie starb im Kindbett, kurz nachdem die grüne Flutwelle Mudflat City zerstört hatte. Ich schrieb weiter Gedichte.
    Wie kann es sein, fragt ihr euch wahrscheinlich, daß jemand wunderschöne Verse mit einem Vokabular von nur neun Worten der rechten Gehirnhälfte schreiben kann?
    Die Antwort ist, daß ich überhaupt keine Worte gebraucht habe. Dichtung dreht sich nur in zweiter Linie um Worte. In erster Linie dreht sie sich um die Wahrheit. Ich befaßte mich mit dem Ding an sich, der Substanz hinter den Schatten, und wob gewaltige Konzepte, Vergleiche und Zusammenhänge, wie ein Ingenieur einen Wolkenkratzer erbaut – das Skelett aus Stahlbeton kommt lange vor Glas und Plastik und Chromaluminium.
    Und allmählich kehrten die Worte zurück. Das Gehirn kann sich erstaunlich gut erholen und neu gestalten. Was in der linken Hälfte verlorengegangen war, hatte anderswo ein Zuhause gefunden oder kehrte mit der Zeit in die beschädigten Regionen zurück, wie Pioniere in ein von Feuer versehrtes Land zurückkehren, das durch die Asche um so fruchtbarer gemacht wurde. Hatte mich bisher ein einfaches Wort wie ›Salz‹ zum Stottern und Stöhnen gebracht, während mein Verstand in der Leere stocherte wie die Zunge im Loch eines gezogenen Zahns, fielen mir Worte und Phrasen nun langsam wieder ein wie die Namen vergessener Spielkameraden. Tagsüber schuftete ich auf den Schleimfeldern, aber nachts saß ich an meinem gesplitterten Holztisch und schrieb meine Gesänge im Licht einer zischenden Gheelampe. Mark Twain hat einmal in seiner hausbackenen Art gesagt:
    »Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem fast richtigen Wort ist wie der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.« Das war drollig, aber unvollständig. In den langen Monaten, als ich meine Gesänge auf Heaven's

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