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Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Marktplatz der Altstadt des geschäftigen Neu Jerusalem. Der Architekt, ein Student des legendären Millon DeHaVre, hat mehrere kleine Scherze in den Entwurf unseres Hauses eingebaut. Natürlich die Stufen, die zum Turmzimmer hinunter führen, aber gleichermaßen drollig ist der Ausgang vom luftigen Horst, der in den Übungsraum im tiefsten Tunnel des Schwarms auf Lusus führt, oder vielleicht das Gästebad, das aus Toilette, Bidet, Waschbecken und Duschkabine auf einem offenen Floß ohne Wände besteht, welches auf der violetten Wasserwelt Mare Infinitus treibt.
    Anfangs waren die Gravitationsveränderungen von Zimmer zu Zimmer beunruhigend, aber ich gewöhnte mich bald daran und wappnete mich unterbewußt gegen den Druck von Lusus und Hebron und Sol Draconi Septem, freute mich ebenso unbewußt auf die Leichtigkeit unter einem ge der Mehrzahl der Zimmer.
    In den zehn Standardmonaten, seit Helenda und ich zusammen sind, haben wir kaum Zeit in unserem Haus verbracht, sondern es statt dessen vorgezogen, mit Freunden durch die Erholungszentren und Ferienarkologien und Nachtclubs des Weltennetzes zu ziehen. Unsere ›Freunde‹ sind das einstige Farcaster Set, das sich nun ›Karibuschwarm‹ nennt – nach einem ausgestorbenen wandernden Säugetier der Alten Erde. Der Schwarm besteht aus Schriftstellern, ein paar erfolgreichen visuellen Künstlern, Intellektuellen des Concourse, Medienrepräsentanten des All-Wesens, einigen radikalen ARNisten und kosmetischen Gensplittern, Aristokraten des Netzes, wohlhabenden Farcaster-Freaks und Flashbacksüchtigen, ein paar Holie- und Bühnenregisseuren, einer Gruppe Schauspielern und Performancekünstlern, mehreren bürgerlich gewordenen Mafia-Dons und einer wechselnden Liste jüngster Berühmtheiten ... mich eingeschlossen.
    Alle trinken, benützen Stims und Autoimplantate, verkabeln sich und können sich die besten Drogen leisten. Die Droge der Wahl ist Flashback: Sie ist eindeutig ein Laster der Oberschicht; man braucht das gesamte Arsenal teurer Implantate, wenn man sie wirklich genießen will. Helenda hat dafür gesorgt, daß ich solchermaßen ausgerüstet worden bin: Biomonitore, Sinnesverstärker, internes Komlog, Nervenweichen, Kicker, Metacortex-Prozessoren, Blutchips, RNS-Bandwürmer ... meine Mutter hätte mein Inneres nicht wiedererkannt.
    Ich probiere Flashback zweimal. Das erste Mal ist ein Gleiten – ich visiere die Party zu meinem neunten Geburtstag an und treffe sie mit der ersten Salve. Alles ist da: die Diener, die bei Tagesanbruch auf dem Nordrasen einen Choral singen; Don Balthasar, der verdrossen den Unterricht absagt, damit ich einen Tag mit Amalfi in meinem EMV verbringen und in fröhlicher Ausgelassenheit über die grauen Dünen des Amazonasbeckens dahinschweben kann; der Fackelzug am Abend, als Abgeordnete der anderen Alten Familien bei Dämmerung eintreffen, deren bunt eingepackte Geschenke unter dem Mond und den Zehntausend Lichtern funkeln. Ich stehe nach neun Stunden Flashback mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Der zweite Trip kostet mich fast das Leben.
    Ich bin vier und weine, ich suche meine Mutter in einer endlosen Abfolge von Zimmern, die nach Staub und alten Möbeln riechen. Androidendiener wollen mich trösten, aber ich schüttle ihre Hände ab, laufe durch von Schatten und dem Ruß zu vieler Generationen besudelte Flure. Ich übertrete die erste Vorschrift, die ich je gelernt habe, und reiße die Tür zu Mutters Nähzimmer auf, ihrem Allerheiligsten, in das sie sich jeden Nachmittag für drei Stunden zurückzieht und aus dem sie mit ihrem sanften Lächeln herauskommt, während der Saum ihres hellen Kleides über den Teppich flüstert wie das Echo des Seufzens eines Geistes.
    Mutter sitzt dort in den Schatten. Ich bin vier und habe mich am Finger verletzt und laufe zu ihr und werfe mich in ihre Arme.
    Sie reagiert nicht. Einer ihrer eleganten Arme bleibt auf der Armlehne des Sessels liegen, der andere schlaff auf dem Kissen.
    Ich weiche zurück, weil mich ihre kalte, plastikähnliche Haut erschreckt. Ich ziehe die schweren Brokatvorhänge auf, ohne mich von ihrem Schoß zu erheben.
    Mutters Augen sind weiß und in den Schädel zurückgerollt. Ihre Lippen sind ein wenig offen. Speichel macht ihre Mundwinkel feucht und glänzt auf ihrem perfekten Kinn. In den goldenen Locken ihres Haars – das im Stil der Grande Dames hochgesteckt ist, der ihr so gut gefällt – sehe ich den kalten Stahlglanz des Stimkabels und den stumpferen Schimmer des

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