Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
waren. Es war, als hätte das große Kruzifix das Licht absorbiert und strahlte es nun zu uns zurück, in uns. Dann wurde auch das Kreuz dunkel, der Wind ließ nach, und in der plötzlichen Düsternis sagte Alpha leise: »Bringt ihn mit.«
Wir kamen auf den breiten Felsensims, wo Beta mit Fackeln wartete. Während Beta diese an einige wenige Auserwählte verteilte, stellte ich mir die Frage, ob die Bikura Feuer ausschließlich für rituelle Zwecke verwendeten. Dann ging Beta voran, und wir schritten die schmale, in den Stein gehauene Treppe hinunter.
Anfangs schleppte ich mich voll Todesangst dahin, drängte mich an die glatte Felswand und suchte nach beruhigenden, vorstehenden Wurzeln oder Gesteinskanten. Rechts von uns ging es so schnurgerade und endlos nach unten, daß es ans Absurde grenzte. Die uralte Treppe hinunterzusteigen war viel schlimmer, als an Ranken der Klippe über uns zu hängen. Hier mußte ich jedesmal nach unten sehen, wenn ich einen Fuß auf die feuchten, schmalen, vom Alter glattgeschliffenen Stufen setzte. Ausrutschen und Abstürzen schienen anfangs wahrscheinlich, bald unvermeidlich.
Da verspürte ich den Wunsch, einfach stehenzubleiben, wenigstens in die Sicherheit der Basilika zurückzukehren, aber die meisten der Fünf Dutzend und Zehn waren hinter mir auf der schmalen Treppe, und es schien unwahrscheinlich, daß sie zur Seite treten und mich vorbei lassen würden. Hinzu kam, daß meine verzehrende Neugier, was am Ende der Treppe warten mochte, letztlich doch größer war als die Angst. Ich blieb gerade lange genug stehen, daß ich zum Klippenrand dreihundert Meter über uns sehen und erkennen konnte, daß die Wolken sich verzogen hatten, die Sterne leuchteten und das nächtliche Ballett der Meteorspuren vor einem finsteren Himmel strahlte. Dann senkte ich den Kopf wieder, rezitierte flüsternd den Rosenkranz und folgte der Fackel und den Bikura in die trügerischen Tiefen.
Ich konnte nicht glauben, daß uns die Treppe bis zum Grund der Kluft hinabführen würde, aber es war so. Als mir irgendwann nach Mitternacht klar wurde, daß wir bis ganz nach unten zur Ebene des Flusses steigen würden, schätzte ich, wir würden bis Mittag des nächsten Tages brauchen, aber es dauerte nicht so lange.
Wir erreichten den Grund der Kluft kurz vor Sonnenaufgang. Die Sterne leuchteten noch in der Öffnung des Himmels zwischen Klippenwänden, die auf beiden Seiten eine unmögliche Strecke emporstiegen. Ich war erschöpft und stolperte Stufe für Stufe nach unten, bis mir schließlich langsam klar wurde, daß gar keine Stufen mehr da waren; dann sah ich auf und fragte mich dümmlich, ob die Sterne hier unten bei Tageslicht sichtbar bleiben würden, so wie in einem Brunnen, in den ich einmal als Kind in Villefranche-sur-Saône hinabgestiegen war.
»Hier«, sagte Beta. Es war das erste Wort, das seit vielen Stunden gesprochen worden war, und über das Rauschen des Flusses hinweg kaum zu hören. Die Fünf Dutzend und Zehn blieben stehen, wo sie waren, und verharrten reglos. Ich brach zusammen, sank auf die Knie und kippte zur Seite. Es war unmöglich, daß ich die Treppe wieder hinaufsteigen konnte, die wir gerade heruntergekommen waren. Nicht an einem Tag. Nicht in einer Woche. Vielleicht niemals. Ich machte die Augen zu, um zu schlafen, aber der Treibstoff nervöser Spannung brannte weiter in mir. Ich sah über den Grund der Schlucht. Der Fluß war hier breiter, als ich erwartet hatte, mindestens siebzig Meter breit, und sein Rauschen ging über bloßen Lärm hinaus; mir war zumute, als würde ich vom Brüllen der großen Bestie verzehrt werden.
Ich setzte mich auf und betrachtete einen dunklen Fleck an der gegenüberliegenden Klippenwand. Ein Schatten, dunkler als die Schatten, regelmäßiger als das Flickwerk von Pfeilern und Spalten und Säulen, welches das Antlitz der Klippe fleckig machte. Es war ein perfektes dunkles Quadrat mit einer Seitenlänge von mindestens dreißig Metern. Eine Tür oder ein Loch in der Klippe. Ich mühte mich auf die Beine und sah an der Wand entlang, an der wir gerade herabgestiegen waren; ja, er war da. Der andere Eingang, auf den Beta und die anderen zugingen, war im Sternenlicht schwach auszumachen.
Ich hatte den Eingang zu Hyperions Labyrinth gefunden.
»Haben Sie gewußt, daß Hyperion eine der neun Labyrinthwelten ist?« hatte mich jemand auf dem Landungsboot gefragt. Ja, es war der junge Priester namens Hoyt. Ich hatte ja gesagt und nicht weiter über diese
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