Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
kann ich das Wunder in der Kluft nicht im Bild festhalten. Wenn sie zerstören, was sie mitgenommen haben – und mich anschließend ermorden –, existieren keine Aufzeichnungen mehr von der Basilika.
Wenn ich eine Waffe hätte, könnte ich die Wachen töten und ...
Großer Gott, was denke ich da? Edouard, was soll ich nur tun?
Und selbst wenn ich dies überlebe – es nach Keats zurück schaffe – eine Rückreise ins Netz arrangiere –, wer würde mir glauben? – nach neunjähriger Abwesenheit von Pacem aufgrund der Zeitschuld des Sprungs – nur ein alter Mann, der mit denselben Lügen zurückkehrt, deretwegen er verbannt worden ist ...
Lieber Gott, wenn sie die Daten zerstören, sollen sie mir auch ein Ende bereiten.
Tag 110:
Nach drei Tagen haben sie über mein Schicksal entschieden.
Zed und der andere, den ich als Theta-Primus bezeichne, kamen kurz nach Mittag, um mich zu holen. Ich blinzelte, als sie mich ins Licht hinausführten. Die Fünf Dutzend und Zehn standen in einem großen Halbkreis beim Klippenrand. Ich rechnete damit, daß sie mich in den Abgrund werfen würden. Dann bemerkte ich das Feuer.
Ich hatte angenommen, die Bikura wären so primitiv, daß sie die Kunst des Feuermachens verlernt hatten. Sie wärmten sich nicht mit Feuer, ihre Hütten waren immer dunkel. Ich habe sie nie eine Mahlzeit kochen sehen, nicht einmal den seltenen Kadaver eines Baumaffen, den sie verzehrten. Aber jetzt brannte das Feuer lichterloh, und sie waren die einzigen, die es entfacht haben konnten. Ich sah nach, was den Flammen Nahrung gab.
Sie verbrannten meine Kleidung, mein Komlog, meine Aufzeichnungen, die Bandkassetten, Videochips, Datendiscs, den Scanner ... alles, das Informationen enthalten hatte. Ich schrie sie an und versuchte, mich selbst ins Feuer zu stürzen und belegte sie mit Ausdrücken, die ich seit den Tagen meiner Kindheit auf der Straße nicht mehr benützt hatte. Sie beachteten mich gar nicht.
Schließlich kam Alpha näher. »Du wirst zur Kruziform gehörig werden«, sagte er leise.
Es war mir einerlei. Sie führten mich zu meiner Hütte zurück, wo ich eine Stunde lang weinte. Es steht keine Wache an der Tür. Vor einer Minute stand ich unter der Tür und überlegte mir, ob ich in die Flammenwälder laufen soll. Dann dachte ich an den viel kürzeren, aber nicht weniger tödlichen Weg zur Kluft.
Ich tat nichts.
Bald wird die Sonne untergehen. Der Wind kommt bereits auf. Bald. Bald.
Tag 112:
Ist es erst zwei Tage her? Es war eine Ewigkeit. Es ist heute morgen nicht abgegangen. Es ist nicht abgegangen.
Der Monitor des Medscanners ist direkt vor mir, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Und doch ist es so. Ich gehöre jetzt zur Kruziform.
Sie kamen kurz vor Sonnenuntergang zu mir. Alle. Ich wehrte mich nicht, als sie mich zum Rand der Klippe führten. Sie waren behender an den Ranken, als ich mir vorzustellen gewagt hätte. Ich hielt sie auf, aber sie waren geduldig und zeigten mir den einfachsten Halt, den schnellsten Weg.
Hyperions Sonne war unter die tiefhängenden Wolken gesunken und über dem Begrenzungswall im Westen zu sehen, als wir die letzten paar Meter zur Basilika gingen. Die abendliche Windmusik war lauter, als ich erwartet hatte; es war, als würden wir in den Klappen einer riesigen Kirchenorgel stecken. Die Noten reichten von so tiefem Baßknurren, daß meine Knochen und Zähne davon vibrierten, bis zu hohen, schrillen Schreien, die mühelos in den Ultraschallbereich hinüberglitten.
Alpha machte die äußere Tür auf, und wir durchquerten den Vorraum und betraten die eigentliche Basilika. Die Fünf Dutzend und Zehn bildeten einen großen Kreis um den Altar und das hohe Kreuz. Keine Litanei. Kein Gesang. Keine Zeremonie. Wir standen einfach schweigend da, während der Wind durch die hohlen Säulen draußen heulte und in dem großen, in Stein gehauenen Saal widerhallte – hallte und widerhallte und immer lauter wurde, bis ich die Hände auf die Ohren drückte. Und die ganze Zeit erfüllten die leuchtenden, horizontalen Sonnenstrahlen den Raum mit zunehmend dunkleren Tönen von Bernstein, Gold, Türkis und dann wieder Bernstein – so kräftige Farben, daß die Atmosphäre fast zähflüssig wirkte und wie Farbe auf der Haut lag. Ich sah, wie das Licht auf das Kreuz fiel und in jedem einzelnen der tausend Edelsteine gehalten wurde, auch dann noch gehalten – schien es –, als die Sonne untergegangen war und die Fenster zum Grau der Dämmerung verblaßt
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