Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
aber immer noch nicht stürmte.
»Scheiße«, sagte der grauhaarige Bogenschütze, der ein paar Schritte von Kassad entfernt stand. »Diese Arschlöcher haben uns den ganzen verdammten Morgen versaut. Sie sollten pissen oder runter vom Pott.«
Kassad nickte. Er war nicht sicher, ob er Mittelenglisch hörte und verstand oder ob der Satz in schlichtem Standard gesprochen worden war. Er hatte keine Ahnung, ob der grauhaarige Bogenschütze ein anderer Kadett der Militärakademie war, ein Ausbilder oder nur ein Produkt der Sim. Er konnte nicht einschätzen, ob der Dialekt korrekt gewesen war. Es war ihm auch einerlei. Sein Herz klopfte und seine Handflächen waren schweißfeucht. Er wischte sich die Hände am Beinkleid ab.
Als hätte König Heinrich das Murmeln des alten Mannes aufgegriffen, schössen plötzlich Befehlsflaggen in die Höhe, Unteroffiziere schrien, eine Reihe nach der anderen hoben die englischen Schützen die Bögen, spannten sie, wenn der Befehl gegeben wurde und schössen beim nächsten Befehl.
Vier Wogen Pfeile, die aus mehr als sechstausend einen Meter langen, messerscharfen Geschossen bestanden, stiegen empor, schienen in dreißig Metern Höhe wie eine Wolke zu hängen und hagelten dann auf die Franzosen hernieder.
Pferde wieherten und Lärm war zu hören, als würden tausend zurückgebliebene Kinder auf zehntausend Blechtöpfe einschlagen, als die bewaffneten Franzosen sich in den Regen der Pfeile stemmten und Helme und Schulterpanzer die Wucht des Regengusses auffangen ließen. Kassad wußte, in militärischer Hinsicht war wenig Schaden angerichtet worden, aber für die vereinzelten französischen Soldaten, die zwanzig Zentimeter Pfeil im Auge stecken hatten oder für die Pferde, die stürzten oder gegeneinander stießen, während ihre Reiter bemüht waren, Holzstecken aus den Rücken und Flanken der Tiere zu ziehen, war das nur ein schwacher Trost.
Die Franzosen stürmten nicht.
Weitere Befehle wurden gebrüllt. Kassad richtete sich auf, machte sich bereit, schoß seinen Pfeil ab. Wieder. Und wieder. Alle zehn Sekunden verdunkelte sich der Himmel. Kassads Arm und Rücken taten von dem strafenden Rhythmus weh. Er stellte fest, daß er weder Hochstimmung noch Wut spürte. Er erledigte seine Aufgabe. Sein Unterarm war aufgeschürft. Wieder flogen die Pfeile. Und wieder. Fünfzehn seines ersten Arsenals von vierundzwanzig Pfeilen waren aufgebraucht, als ein Aufschrei durch die englischen Linien ging und Kassad innehielt und mit gespanntem Bogen nach vorne sah.
Die Franzosen stürmten.
Ein Kavallerieangriff lag außerhalb von Kassads Erfahrung. Zwölfhundert gepanzerte Pferde zu sehen, die direkt auf ihn zugestürmt kamen, erzeugte innere Reaktionen, die Kassad etwas nervenaufreibend fand. Der Ansturm dauerte weniger als vierzig Sekunden, aber Kassad stellte fest, diese Zeit reichte vollkommen aus, daß sein Mund trocken wurde, er Atemprobleme bekam und seine Hoden fast völlig in den Körper schrumpelten. Hätte der Rest von Kassad ein geeignetes Versteck gefunden, hätte er ernsthaft in Erwägung gezogen, sich darin zu verkriechen.
Aber so war er zu beschäftigt, um wegzulaufen.
Seine Reihe Bogenschützen, die auf Befehl ihre Pfeile losschickten, konnten fünf volle Salven auf die angreifenden Reiter abschießen, schafften eine weitere ungeordnete Salve und zogen sich dann in Fünferschritten zurück.
Pferde, stellte sich heraus, waren zu klug, sich freiwillig auf Pflöcken aufzuspießen – so sehr ihre Reiter sie auch dazu drängten –, aber die zweite und dritte Woge der Kavallerie hielt nicht so unvermittelt an wie die erste, und so fielen die Pferde in einem einzigen Augenblick des Wahnsinns um und schrien, Reiter stürzten ab und schrien, und Kassad sprang auf und schrie, stürmte auf jeden gestürzten Franzosen los, den er sehen konnte, schlug mit der Streitaxt auf die liegende Gestalt ein, wenn er konnte, und wenn das Getümmel so groß war, daß er die Streitaxt nicht schwingen konnte, stieß er das lange Messer durch Lücken in den Rüstungen. Bald waren er und der grauhaarige Bogenschütze und ein junger Mann, der den Helm verloren hatte, zu einem wirkungsvollen Killerteam geworden; sie näherten sich einem gestürzten Reiter von drei Seiten, Kassad schlug den fliehenden Reitersmann mit der Streitaxt von den Füßen, dann stürzten sich alle drei mit den Klingen auf ihn.
Nur ein Ritter kam wieder auf die Beine, hob sein Schwert und stellte sich ihnen entgegen. Der Franzose
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