Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Kassad. »Hyperion hat ein elektromagnetisches Feld. Man kann sich nur nicht darauf verlassen, daß es etwas in der Luft hält, weil es sehr schwach ist.«
Pater Hoyt zog eine Braue hoch und vermochte eindeutig nicht, den Unterschied zu sehen.
»He«, rief der Dichter von seinem Platz an der Reling, »die ganze Bande ist da!«
»Und?« sagte Brawne Lamia. Ihre Lippen wurden jedesmal zu einer kaum zu erkennenden Linie, wenn sie mit Silenus sprach.
»Wir sind alle hier«, sagte der Dichter. »Machen wir mit dem Geschichtenerzählen weiter.«
Het Masteen sagte: »Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, daß wir unsere jeweiligen Geschichten nach dem Dinner erzählen würden.«
Martin Silenus zuckte die Achseln. »Frühstück, Dinner, wen kümmert das schon? Wir sind zusammen. Wir brauchen keine sechs oder sieben Tage bis zu den Zeitgräbern, oder?«
Der Konsul überlegte. Keine zwei Tage, um so weit zu gelangen, wie der Fluß sie befördern konnte. Zwei weitere Tage, oder weniger, wenn der Wind günstig stand, auf dem Grasmeer. Und sicher nicht mehr als einen Tag, um die Berge zu überqueren. »Nein«, sagte er. »Nicht ganz sechs Tage.«
»Nun denn«, sagte Silenus, »fahren wir mit den Geschichten fort. Außerdem gibt es keine Garantie, daß das Shrike nicht erscheint, bevor wir an seine Tür klopfen. Wenn diese Gutenachtgeschichten in irgendeiner Form dazu beitragen sollen, unser Überleben zu gewährleisten, dann meine ich, sollten wir alle hören, bevor die Erzähler einer nach dem anderen von diesem beweglichen Fleischwolf zerstückelt und gehächselt werden, den wir unbedingt besuchen möchten.«
»Sie sind ekelerregend«, sagte Brawne Lamia.
»Oh, Liebling«, erwiderte Silenus lächelnd, »dieselben Worte hast du gestern nacht nach deinem zweiten Orgasmus geflüstert.«
Lamia wandte sich ab. Pater Hoyt räusperte sich und sagte: »Wer ist an der Reihe? Seine Geschichte zu erzählen, meine ich?« Das Schweigen zog sich ziemlich in die Länge.
»Ich«, sagte Fedmahn Kassad. Der große Mann griff in die Tasche seines weißen Gewands und zog einen Papierschnipsel heraus, auf den eine große 2 gekritzelt war. »Macht es Ihnen etwas aus, jetzt zu erzählen?« fragte Sol Weintraub.
Kassad ließ die Andeutung eines Lächelns erkennen. »Ich war überhaupt nicht dafür«, sagte er, »doch soll's nunmal gesehen'n, was geschehen muß, am besten ist's, es möge schnell gescheh'n!«
»He!« rief Martin Silenus. »Der Mann kennt seine Prä-Hegira-Dramatiker!«
»Shakespeare?« fragte Pater Hoyt.
»Nein«, antwortete Silenus. »Lerner und der beschissene Löwe. Arschloch Neil Simon. Wichser Hamel Posten.«
»Oberst«, sagte Sol Weintraub formell, »das Wetter ist schön, niemand von uns scheint in den nächsten Stunden etwas Dringendes zu erledigen zu haben, und daher würden wir uns sehr freuen, wenn Sie uns die Geschichte erzählen würden, was Sie zur letzten Pilgerfahrt zum Shrike nach Hyperion führt.«
Kassad nickte. Der Tag wurde wärmer, der Segeltuchbaldachin flatterte, die Decks knirschten und die Levitationsbarke Benares legte konstant die Strecke flußaufwärts zu den Bergen, den Mooren und dem Shrike zurück.
Die Geschichte des Soldaten
Die Liebenden im Krieg
Während der Schlacht von Agincourt begegnete Fedmahn Kassad der Frau, die er den Rest seines Lebens suchen sollte.
Es war ein nasser und kalter Morgen Ende Oktober A. D. 1415. Kassad war als Bogenschütze in die Armee von Heinrich V. von England aufgenommen worden. Die englische Streitmacht befand sich seit dem 14. August auf französischem Boden und war seit dem 8. Oktober vor den überlegenen französischen Truppen auf dem Rückzug. Heinrich hatte seine Ratgeber überzeugen können, daß die Armee die Franzosen bei einem Gewaltmarsch ins sichere Calais schlagen konnte. Das war nicht gelungen. Als der Morgen des 25. Oktober grau und regnerisch heraufzog, sahen sich siebentausend Engländer, überwiegend Bogenschützen, einer Streitmacht von achtundzwanzigtausend Franzosen gegenüber, die einen Kilometer jenseits des schlammigen Schlachtfelds standen.
Kassad fror, war müde, fühlte sich elend und hatte Angst. Er und die anderen Soldaten hatten die vergangene Woche des Marsches von wenig mehr als wilden Beeren gelebt, fast jeder Mann an der Front litt inzwischen an Diarrhöe. Die Lufttemperatur lag um die zehn Grad Celsius, Kassad hatte die lange Nacht über versucht, auf dem feuchten Boden zu schlafen. Der unglaubliche Realismus
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