Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
des Erlebnisses beeindruckte ihn – das Historisch-Taktische Network der Militärakademie Olymp war gewöhnlichen Stimsims so überlegen wie Holos normalen Fotografien überlegen waren –, doch die körperlichen Empfindungen waren so überzeugend, so wirklichkeitsnah, daß Kassad der Gedanke nicht behagte, er könnte verwundet werden. Man erzählte sich von Kadetten, die in den Sims des MAO:HTN tödlich verwundet und tot aus ihren Immersions-Horten gezogen worden waren.
Kassad und die anderen Bogenschützen an Heinrichs rechter Flanke hatten fast den ganzen Vormittag zu der gewaltigen französischen Streitmacht hinübergesehen, als Wimpel geschwenkt wurden, die Feldwebel des fünfzehnten Jahrhunderts brüllten und die Bogenschützen dem Befehl des Königs gehorchten und gegen den Feind marschierten. Die zerrissene englische Linie, die sich von Baumgrenze zu Baumgrenze etwa siebenhundert Meter quer über das Schlachtfeld erstreckte, bestand aus Gruppen von Bogenschützen, wie Kassads Trupp, dazwischen kleinere Gruppen bewaffneter Soldaten. Die Engländer verfügten nicht über eine formelle Kavallerie, die einzigen Pferde, die Kassad auf seiner Seite des Schlachtfelds sehen konnte, trugen Männer nahe der Befehlsgruppe des Königs dreihundert Meter zur Mitte hin oder drängten sich um die Stellung des Duke of York herum, der dichter bei Kassad und den anderen Bogenschützen an der rechten Flanke stand. Diese Kommandogruppen erinnerten Kassad an ein mobiles FORCE:Bodenstabs-HQ, nur daß anstelle des unausweichlichen Waldes von Korn-Antennen, die ihre Position verrieten, bunte Flaggen und Wimpel schlaff an Stäben hingen. Ein eindeutiges Artillerieziel, dachte Kassad, doch dann fiel ihm ein, daß diese spezielle militärische Nuance noch gar nicht existierte.
Kassad stellte fest, daß die Franzosen eine Menge Pferde hatten. Er schätzte, daß sechs oder siebenhundert berittene Männer an jeder französischen Flanke formiert waren und eine langgezogene Reihe Kavallerie hinter der Kampflinie bereit stand. Kassad konnte Pferde nicht leiden. Er hatte natürlich Holos und Bilder gesehen, aber bis zu dieser Übung war er noch nie den Tieren selbst begegnet, und ihre Größe, ihr Geruch und ihre Laute waren nervtötend – besonders wenn die verfluchten Vierbeiner Brust, Kopf und Schienbeine gepanzert hatten und trainiert waren, bewaffnete Männer mit vier Meter langen Lanzen zu tragen.
Der englische Vormarsch kam zum Stillstand. Kassad schätzte, daß seine Gefechtslinie etwa zweihundertfünfzig Meter von der französischen entfernt war. Er wußte durch die Erfahrungen der vergangenen Wochen, daß dies innerhalb der Reichweite der Langbogen lag, aber er wußte auch, er würde sich den Arm halb aus dem Gelenk ziehen müssen, um die Sehne zu spannen. Die Franzosen brüllten – Beleidigungen, wie Kassad vermutete. Er achtete nicht auf sie, während er und seine stummen Kameraden sich von der Stelle entfernten, wo sie die langen Pfeile festgerammt hatten, und weichen Boden suchten, um die Pflöcke aufzustellen. Die Pflöcke waren lang und schwer, und Kassad trug seinen seit einer Woche bei sich. Das unhandliche Ding war fast anderthalb Meter lang und an beiden Enden zugespitzt. Als der Befehl an alle Bogenschützen ergangen war, Äste zu suchen und Pflöcke zu schnitzen, nachdem sie die Somme im tiefen Wald überquert hatten, da hatte sich Kassad müßig gefragt, wofür die Dinger sein sollten. Jetzt wußte er es.
Jeder dritte Bogenschütze trug einen schweren Hammer bei sich, und nun schlugen sie die Pflöcke abwechselnd in einem schiefen Winkel in den Boden. Kassad zog sein langes Messer heraus, spitzte das Ende nach, das ihm selbst schräg fast bis an die Brust reichte, und wich durch das Wirrwarr der spitzen Pflöcke zurück, um auf den Ansturm der Franzosen zu warten.
Die Franzosen stürmten nicht. Kassad wartete mit den anderen. Sein Bogen war gespannt, achtundvierzig Pfeile waren in zwei Gruppen zu seinen Füßen gerammt, die Beine hatte er ordentlich festgestemmt.
Die Franzosen stürmten nicht.
Der Regen hatte aufgehört, aber eine kühle Brise war aufgekommen, und das bißchen Körperwärme, das Kassad durch den kurzen Marsch und das Einschlagen der Pflöcke erzeugt hatte, war rasch wieder dahin. Die einzigen Geräusche waren das metallische Schlurfen von Männern und Pferden, gelegentliches Murmeln oder auch nervöses Lachen und das dumpfe Pochen von Hufen, als die französische Kavallerie sich neu formierte,
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