Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
betraten, wo das Shrike in der Nacht zuvor erschienen war. Hoyts Blut hatte einen rostroten Fleck auf dem grünen Keramikboden hinterlassen. Von der transparenten Öffnung ins Labyrinth hinunter war nichts zu sehen. Und keine Spur vom Shrike.
Der Obelisk besaß keine Zimmer, lediglich einen zentralen Schacht, in dem eine für Menschen zu steile Rampe spiralförmig zwischen ebenholzfarbenen Wänden in die Höhe verlief. Selbst Flüstern erzeugte hier Echos, daher reduzierte die Gruppe Unterhaltungen auf ein Minimum. Es gab keine Fenster, keinen Ausblick am oberen Ende der Rampe, fünfzig Meter über dem Steinboden, und ihre Lichtkegel strahlten lediglich in Finsternis, wo sich das Dach über ihnen wölbte. Seile und Ketten – Überbleibsel von zwei Jahrhunderten Tourismus – ermöglichten ihnen, ohne unziemliche Angst vor einem Sturz, der in der Tiefe tödlich enden würde, wieder hinabzugehen. Als sie am Eingang verweilten, rief Martin Silenus zum letzten Mal Kassads Namen, und die Echos folgten ihnen ins Sonnenlicht hinaus.
Eine halbe Stunde oder mehr verbrachten sie damit, die Schäden um den Kristallmonolithen herum zu begutachten. Pfützen in Glas verwandelten Sands, manche bis zu fünf Meter im Durchmesser, brachen das Nachmittagslicht wie Prismen und reflektierten Hitze in die Gesichter der Pilger. Das zerschmetterte Antlitz des Monolithen, das jetzt von Narben und Löchern und baumelnden Fäden geschmolzenen Kristalls verunziert war, sah wie das Opfer eines hirnlosen Anfalls von Vandalismus aus, aber sie wußten alle, daß Kassad um sein Leben gekämpft haben mußte. Es gab keine Tür, keinen Zugang zum kammförmigen Labyrinth im Innern. Instrumente verrieten ihnen, daß das Innere so leer und unzusammenhängend wie immer war. Sie entfernten sich widerwillig und erklommen die steilen Pfade zum Ansatz der nördlichen Felswand, wo die Höhlengräber jeweils weniger als einhundert Meter voneinander entfernt lagen.
»Frühe Archäologen glaubten, daß diese Gräber wegen ihres primitiven Charakters die frühesten sein müßten«, sagte Sol, als sie die erste Höhle betraten und die Lichtkegel über Gestein gleiten ließen, das in Tausende unidentifizierbare Muster geschnitzt war. Keine Höhle war tiefer als dreißig bis vierzig Meter. Jede hörte an einer Felsmauer auf, und weder Sonden noch Radar hatten jemals auch nur hinter einer eine Verlängerung aufspüren können.
Nachdem sie aus dem dritten Höhlengrab herauskamen, setzten sich die Gruppenmitglieder in das bißchen Schatten, das sie finden konnten, und teilten sich Wasser und Proteinbiskuits aus Kassads zusätzlichen Feldrationen: Der Wind hatte wieder zugenommen, jetzt seufzte und flüsterte er durch Öffnungen im Felsgestein hoch über ihnen.
»Wir werden ihn nicht finden«, sagte Martin Silenus. »Das verdammte Shrike hat ihn geholt.«
Sol fütterte das Baby mit einer der letzten Säuglingsrationen. Obwohl sich Sol alle Mühe gegeben hatte, sie vor der Sonne zu schützen, während sie draußen gingen, hatte diese den Kopf des Babies rosa gefärbt. »Er könnte in einem der Gräber sein, die wir abgesucht haben«, sagte er, »wenn es Abschnitte gibt, die in einer anderen Zeitphase sind als wir. Das ist die Theorie von Arundez. Er sieht die Gräber als vierdimensionale Gebilde mit komplexen Falten in der Raum/Zeit.«
»Klasse«, sagte Lamia. »Das heißt, selbst wenn Kassad hier ist, können wir ihn nicht sehen.«
»Nun«, sagte der Konsul und erhob sich mit einem müden Seufzen, »bringen wir es wenigstens zu Ende. Es bleibt noch ein Grab.«
Der Palast des Shrike lag einen Kilometer weiter im Innern des Tals, tiefer als die anderen und war hinter einer Biegung der Felswände verborgen. Das Gebilde war nicht groß, kleiner als das Jadegrab, aber seine komplexe Konstruktion – Flansche, Türme, Zinnen und Stützsäulen, die sich in kontrolliertem Chaos krümmten und wanden – ließ es größer wirken, als es war.
Das Innere des Palastes des Shrike bestand aus einer hallenden Kammer mit unregelmäßigem Fußboden aus Tausenden gekrümmten, verbundenen Segmenten, die Lamia an Rippen und die Wirbelsäule eines fossilen Tiers erinnerten. Fünfzehn Meter über ihnen durchzog ein Wirrwarr von verchromten ›Schneiden‹ die Kuppel, die durch die Wände und gegeneinander verliefen und als Dornen mit Stahlspitzen über dem Gebilde aufragten. Das Material der Kuppel selbst war leicht milchig und verlieh dem mausoläumsähnlichen Innern einen milchigen
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