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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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seinen Schmerz hinweg und stellte fest, daß er einige Gestalten kannte. Es waren Leiber, keine Seelen oder andere Abstrakta, und sie litten eindeutig die Qualen eines Lebens unter höllischen Schmerzen.
    ES IST NOTWENDIG, schrieb Silenus' Hand auf die unnachgiebige alte Brust des Shrike. Blut tropfte auf Quecksilber und Sand.
    »Nein!« schrie der Dichter. Er hämmerte mit den Fäusten auf Skalpellklingen und Stacheldraht ein. Er zog und zuckte und wand sich, während das Geschöpf ihn dichter an sich zog und ihn auf seine Dornen spießte, als wäre er ein Schmetterling, ein Exemplar, das festgesteckt wurde. Nicht die unvorstellbaren Schmerzen trieben Silenus in den Wahnsinn, sondern das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts. Er hatte es fast vollendet gehabt. Er hatte es fast vollendet gehabt!
    »Nein!« schrie Martin Silenus, der sich noch heftiger wehrte, bis eine Gischt aus Blut und obszöne Flüche die Luft erfüllten. Das Shrike trug ihn zu dem wartenden Baum.
    In der toten Stadt hallten die Schreie noch eine Minute, wurden leiser und kamen von weiter her. Dann herrschte Stille, lediglich unterbrochen von den Tauben, die in ihre Nester zurückkehrten und mit leisem Flügelschlag auf die zerschmetterten Kuppeln und Türme herniedersanken.
    Der Wind nahm zu, klirrte mit lockeren Perspexscheiben und Mauerwerk, jagte trockene Blätter durch ausgetrocknete Brunnen, drang durch die gesprungenen Scheiben der Kuppel ein und hob Manuskriptseiten mit einem sanften Wirbelwind empor; manche Seiten entkamen und wurden über stille Innenhöfe und verlassene Fußwege und eingestürzte Aquädukte geweht.
    Nach einer Weile flaute der Wind ab, und nichts bewegte sich mehr in der Stadt der Dichter.
     

22
     
    Brawne Lamia mußte feststellen, wie sich ihr vierstündiger Fußmarsch in einen zehnstündigen Alptraum verwandelte. Zuerst der Umweg zur toten Stadt und die schwierige Entscheidung, ob sie Silenus allein zurücklassen sollte. Sie wollte nicht, daß der Dichter dort bliebe; sie wollte ihn aber auch nicht zwingen, mit ihr zu gehen, und nicht die Zeit verlieren, ihn wieder zu den Gräbern zurückzubringen. Der Umweg über die Hügelkuppe kostete sie auch so schon eine Stunde Zeit.
    Es war anstrengend und ermüdend, die letzten Dünen und die Felswüste zu durchqueren. Als sie das Vorgebirge erreichte, war es Spätnachmittag, und das Keep lag im Schatten.
    Vor vierzig Stunden war es leicht gewesen, die sechshundertundeinundsechzig Stufen vom Keep herunterzusteigen. Aber der Aufstieg stellte selbst ihre auf Lusus gestählten Muskeln auf eine harte Bewährungsprobe.
    Während sie kletterte, wurde die Luft kühler, der Ausblick atemberaubender, und als sie vierhundert Meter über dem Vorgebirge war, schwitzte sie nicht mehr, und das Tal der Zeitgräber war wieder zu sehen. Von diesem Blickwinkel aus war lediglich die Spitze des Kristallmonolithen zu sehen, und dieser bestand nur aus einem unregelmäßigen Aufblitzen und Flimmern von Licht. Sie verweilte einmal und vergewisserte sich, daß es sich nicht um eine Botschaft handelte, die durch Leuchtsignale übermittelt wurde, aber das Aufblitzen war wahllos, lediglich ein Stück abgebrochenen Kristalls, das an dem verwüsteten Monolithen baumelte und das Sonnenlicht reflektierte.
    Vor den letzten hundert Stufen versuchte Lamia es noch einmal mit ihrem Komlog. Die Komkanäle lieferten den üblichen Unsinn nebst Rauschen, wahrscheinlich eine Störung durch die Zeitgezeiten, die lediglich auf kürzeste Entfernung elektromagnetische Kommunikation zuließen. Ein Komlaser hätte funktioniert – jedenfalls schien er bei dem vorsintflutlichen Komlogrelais des Konsuls zu funktionieren –, aber seit Kassads Verschwinden besaßen sie keine Komlaser mehr. Lamia zuckte die Achseln und erklomm die letzten Stufen.
    Chronos Keep war von den Androiden des Traurigen Königs Billy gebaut worden, es war als Erholungszentrum, Rasthaus und Sommerfrische für Künstler gedacht gewesen. Nach der Evakuierung der Stadt der Dichter hatte es über ein Jahrhundert lang leer gestanden und war lediglich von den tollkühnsten Abenteurern besucht worden.
    Da die Bedrohung durch das Shrike langsam nachgelassen hatte, hatten sich Touristen und Pilger das Gebäude zunutze gemacht, schließlich hatte die Kirche des Shrike es als notwendige Station der alljährlichen Pilgerfahrt wiedereröffnet. Man munkelte, daß einige der Säle, die tief ins Felsgestein gehauen oder auf den unzugänglichsten Türmchen

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