Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Silenus seine Muse verraten und seine Feder zur Tatenlosigkeit verdammt. Als er wieder zu arbeiten anfing, als er dem sicheren Pfad folgte, dem perfekten Kreis, den nur der inspirierte Schriftsteller erfahren kann, war Martin Silenus zumute, als würde er ins Leben zurückkehren ... seine Adern wurden durchströmt, die Lungen füllten sich, er kostete die reine Luft und sah das volle Licht, ohne sich dessen bewußt zu sein, genoß jede Bewegung des uralten Federhalters auf dem Pergament, bewunderte den gewaltigen Stapel beschmierter Seiten, die auf dem runden Tischchen lagen, wo Geröllstücke als Briefbeschwerer dienten, und die Geschichte entfaltete sich wieder ungehindert; mit jedem Vers, mit jeder Zeile lockte die Unsterblichkeit.
Silenus hatte den schwierigsten und aufregendsten Teil des Gedichts erreicht, die Szenen, in denen der Konflikt Tausende Landschaften überspannte, ganze Zivilisationen in Schutt und Asche gelegt wurden und die Abgeordneten der Titanen einen Waffenstillstand erbitten, um sich mit den humorlosen Recken der Olympier zu treffen und zu verhandeln. Durch diese epische Landschaft der Phantasie schritten Saturn, Hyperion, Cottus, Iapetus, Ozeanus, Briareus, Mimus, Porphyrion, Enceladus, Rhoetus und andere – deren gleichermaßen titanische Schwestern Tethys, Phoebe, Theia und Clymene –, und ihnen gegenüber die leutseligen Antlitze von Jupiter, Apollo und deren Parteigänger.
Silenus kannte das Ende dieses epischsten aller Gedichte nicht. Er lebte nur noch, um dieses Werk zu vollenden – schon seit Jahrzehnten. Dahin waren seine Jugendträume von Ruhm und Reichtum durch das Wort – er hatte unvorstellbaren Ruhm und Reichtum erlangt, und es hatte ihn fast umgebracht, hatte seine Kunst getötet – und obwohl er wußte, daß die Gesänge das beste literarische Werk seiner Zeit waren, wollte er es nur vollenden, wollte selbst den Ausgang erfahren und jeden Vers, jede Zeile, jedes Wort in der feinsinnigsten, schönsten und reinsten Form zu Papier bringen.
Nun schrieb er fieberhaft und fast irre vor Verlangen, das zu vollenden, was er lange Zeit für unvollendbar gehalten hatte. Worte und Ausdrücke flossen aus seiner antiken Feder auf das antike Papier; Reime entstanden ohne Anstrengung, Cantos fanden ihre Stimme und vollendeten sich praktisch von selbst, ohne erforderliche Überarbeitung, ohne Pause für die Inspiration. Das Gedicht entfaltete sich mit erschreckender Geschwindigkeit, erstaunlichen Offenbarungen und schmerzlicher Schönheit in Worten und Metaphern gleichermaßen.
Unter ihrer Flagge des Waffenstillstands sahen Saturn und sein Widersacher Jupiter einander über eine Platte aus poliertem Marmor hinweg an. Ihre Dialoge waren episch und schlicht zugleich, ihre Argumente für die Existenz, ihre Begründung des Krieges schufen die erlesenste Debatte seit Thukydides Melianischen Dialogen. Plötzlich floß etwas gänzlich Unerwartetes, das Martin Silenus in den langen Stunden des Nachdenkens ohne seine Muse nie und nimmer geplant hatte, in das Gedicht ein. Die beiden Könige der Götter brachten ihre Angst vor einem dritten Widersacher zum Ausdruck, einer schrecklichen Macht von außerhalb, welche die Stabilität beider Regentschaften unterwanderte. Silenus sah voll unverhohlenen Erstaunens wie die Figuren, die er in Tausenden mühsamen Stunden geschaffen hatte, sich seinem Willen widersetzten, einander über die Marmorplatte hinweg die Hände schüttelten und einander Beistand schworen gegen ...
Gegen was?
Der Dichter hielt inne, die Feder verweilte, als er feststellte, daß er kaum noch die Seite sehen konnte. Er schrieb schon geraume Zeit im Halbdunkel, und nun hatte sich völlige Dunkelheit herniedergesenkt.
Silenus fand in dem Vorgang zu sich selbst zurück, die Welt wieder in sich einströmen zu lassen, wie man nach einem Orgasmus langsam wieder zu Sinnen kommt. Aber die Rückkehr des Dichters in die Welt war qualvoller, da er Wolken des Ruhms hinter sich herzog, die sich rasch im weltlichen Strom des Trivialen verflüchtigten.
Silenus sah sich um. In dem großen Speisesaal war es ziemlich dunkel, abgesehen vom schwachen Licht der Sterne und den fernen Explosionen hinter den efeuüberwucherten Fenstern oben. Die Tische um ihn herum waren lediglich Schatten, die Wände, dreißig Meter in alle Richtungen entfernt, dunklere Schatten, welche von der unregelmäßigen schwärzeren Dunkelheit der Wüstenflechte durchsetzt war. Außerhalb des Speisesaals war Abendwind
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