Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
der Schrei eines Menschen. Die Töne gingen bis in den Ultraschallbereich und darüber hinaus, sie machten Lamia so nervös, daß sie den Pistolengriff umklammerte, bis die Knöchel weiß wurden. Der Schrei brach so unvermittelt ab, als wäre der Tonarm von einer Schallplatte genommen worden.
Lamia sah, woher das Geräusch gekommen war. Hinter der Tafel, hinter der Skulptur, unter den sechs Buntglasfenstern, wo das sterbende Licht stumpfe Farben blutete, befand sich eine kleine Tür. Die Stimme war von dort, von unten gekommen, als würde sie aus einem Kerker oder Verlies in der Tiefe ertönen.
Brawne Lamia war neugierig. Ihr ganzes Leben war ein Konflikt mit Neugier über und jenseits der Norm gewesen, die ihren Höhepunkt darin gefunden hatte, daß Lamia den überflüssigen und manchmal amüsanten Beruf einer Privatdetektivin ergriffen hatte. Mehr als einmal hatte ihre Neugier zu Peinlichkeiten und Ärger geführt – oder beidem. Und mehr als einmal hatte sich ihre Neugier ausgezahlt und ihr Wissen eingebracht, das sonst kaum jemand hatte.
Diesmal nicht.
Lamia war gekommen, um dringend benötigte Nahrungsmittel und Wasser zu finden. Keiner der anderen wäre hierher gekommen ... die drei älteren Männer hätten es auch ohne den Umweg zur toten Stadt nicht schneller als sie schaffen können ... und alles oder alle anderen gingen sie nichts an.
Kassad? fragte sie sich, verdrängte den Gedanken aber. Dieser Laut war nicht aus dem Mund des FORCE-Obersten gekommen.
Brawne Lamia wich von der Tür zurück, hielt die Pistole schußbereit, fand die Stufen zu den Hauptetagen und ging vorsichtig hinab, wobei sie so verstohlen wie möglich durch jeden Saal schritt, wie es eben mit siebzig Kilo Lebensmitteln und mehr als zwölf Wasserflaschen möglich war. Auf der untersten Etage sah sie ihr Spiegelbild in einem erblindeten Glas – untersetzter Körper, gezückte Pistole, die kreiste, eine gewaltige Last Rucksäcke schwankend auf dem Rücken und an breiten Gurten Flaschen und Feldflaschen, die klackend aneinanderstießen.
Lamia fand es nicht witzig. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie auf der untersten Terrasse draußen war, in der kühlen, dünnen Luft und sich wieder auf den Abstieg vorbereitete. Sie brauchte die Taschenlampe noch nicht – ein Abendhimmel, der plötzlich voll tiefhängender Wolken war, ergoß rosa und bernsteinfarbenes Licht über die Welt, das selbst das Keep und die Vorgebirge unten in seine satten Farbtöne tauchte.
Sie nahm zwei Stufen auf einmal, und ihre kräftige Beinmuskulatur schmerzte, noch ehe sie die Hälfte zurückgelegt hatte. Sie steckte die Pistole nicht weg, sondern hielt sie bereit, falls etwas von oben herabstoßen oder sich in einer Öffnung der Felswand zeigen sollte. Als sie unten angekommen war, entfernte sie sich von der Felswand und sah zu den Terrassen und Türmen einen halben Kilometer über ihr hinauf.
Felsen fielen in ihre Richtung. Nicht nur Felsen, wurde ihr klar, Monsterfratzen waren von ihren angestammten Plätzen gerissen worden und polterten mit den Felsen herunter; wobei das dämmrige Licht ihre dämonischen Gesichter beleuchtete. Lamia lief los, mußte aber einsehen, daß sie mit den baumelnden Flaschen und Rucksäcken keine Möglichkeit hatte, eine sichere Entfernung zu erreichen, bis die Trümmer aufschlagen würden, daher warf sie sich zwischen zwei flache Felsblöcke, die gegeneinander lehnten.
Die Rucksäcke verhinderten, daß sie ganz darunterkriechen konnte, sie strengte sich an, zerriß Gurte und hörte die unglaublichen Geräusche, als die ersten Felsbrocken hinter ihr aufschlugen und über ihr als Querschläger davonpolterten. Lamia zog und zerrte mit einer Verbissenheit, die Ledergurte sprengte, Fiberplastik zerriß, und dann war sie unter den Felsen und zog die Rucksäcke und Flaschen mit sich, weil sie entschlossen war, nicht noch einmal ins Keep zurückzukehren.
Felsbrocken so groß wie ihr Kopf und ihre Hände regneten um sie herum herab. Der zerschmetterte Kopf eines Trolls aus Stein sauste vorbei und zertrümmerte einen kleinen Felsen keine drei Meter entfernt. Einen Moment lang war die Luft voll von Splittern, größere Steine fielen auf die Felsen über ihrem Kopf, und dann war der Erdrutsch vorbei, und lediglich kleineres Geröll des Kielwassers prasselte herab.
Lamia beugte sich nach vorn, damit sie den Rucksack weiter unter das Felsdach ziehen konnte, als ein Steinbrocken von der Größe ihres Komlogs von der
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