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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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aufgekommen, dessen Stimme immer lauter klang, und die Risse und Sprünge und unregelmäßigen Löcher in der Kuppel über ihm sangen mit Alt- und Sopranstimmen.
    Der Dichter seufzte. Er hatte keine Handfackel im Rucksack. Er hatte nur Wasser und seine Cantos mitgebracht. Und nun spürte er, wie sein Magen vor Hunger knurrte. Wo blieb die verfluchte Brawne Lamia? Aber kaum hatte er das gedacht, wurde ihm klar, ihn freute, daß die Frau nicht zurückgekommen war, um ihn zu holen. Er brauchte Einsamkeit, um das Gedicht zu beenden – bei dieser Geschwindigkeit würde er nicht länger als einen Tag brauchen, möglicherweise reichte die Nacht. Noch ein paar Stunden, und er würde sein Lebenswerk vollendet haben und bereit sein, die alltäglichen Kleinigkeiten zu genießen, die Trivialitäten des Lebens, die ihm seit Jahrzehnten nur Unterbrechungen seiner Arbeit gewesen waren, die er nicht fertigstellen konnte.
    Martin Silenus seufzte wieder und räumte nacheinander die Manuskriptseiten in seinen Rucksack. Er würde irgendwo ein Licht finden ... ein Feuer anzünden, und wenn er die uralten Wandteppiche des Traurigen Königs Billy als Brennmaterial nehmen mußte. Er würde draußen im zuckenden Licht der Raumschlacht schreiben, wenn es erforderlich sein sollte.
    Silenus hielt die letzten Manuskriptseiten und den Federhalter in einer Hand, drehte sich um und suchte nach einem Ausgang.
    Etwas stand bei ihm in der dunklen Halle.
    Lamia, dachte er und spürte, wie Erleichterung und Enttäuschung in seinem Innern mit ihm rangen.
    Aber es war nicht Brawne Lamia. Silenus bemerkte die Verzerrung, den zu massigen Torso und die zu langen Beine, das Sternenlicht auf Panzer und Dornen, die Schatten von Armen unter Armen und ganz besonders das rubinrote Leuchten von Höllenfeuer anstelle von Augen.
    Silenus stieß ein Stöhnen aus und setzte sich wieder. »Nicht jetzt!« schrie er. »Hebe dich fort, verflucht seien deine Augen!«
    Der hohe Schatten kam näher, seine Schritte auf dem kalten Keramikboden waren lautlos. Blutrote Energie waberte am Himmel, und der Dichter konnte nun die Dornen und Klingen und messerscharfen Schneiden erkennen.
    »Nein!« schrie Martin Silenus. »Ich weigere mich. Laß mich in Ruhe!«
    Das Shrike kam näher. Silenus' Hand zuckte, hob den Federhalter erneut und schrieb auf den unteren Rand der letzten Seite: ES IST ZEIT, MARTIN.
    Er betrachtete, was er geschrieben hatte, und unterdrückte den Impuls, irre zu kichern. Soweit er wußte, hatte das Shrike nie gesprochen ... nie mit jemandem kommuniziert Abgesehen von den verwandten Medien Schmerz und Tod. »Nein!« schrie er wieder. »Ich muß arbeiten. Nimm einen anderen, verdammt!«
    Das Shrike kam noch einen Schritt näher. Stumme Plasmaexplosionen pulsierten am Himmel, Gelb- und Rottöne huschten über die Quecksilberbrust und Arme des Wesens wie verschüttete dünnflüssige Farben. Martin Silenus' Hand zuckte und schrieb über die vorherige Botschaft: ES IST JETZT ZEIT, MARTIN.
    Silenus drückte sein Manuskript an sich und nahm die letzten Seiten vom Tisch, damit er nicht mehr schreiben konnte. Er fletschte die Zähne zu einem gräßlichen Starrkrampf, während er das Wesen förmlich anfauchte.
    DU WARST BEREIT, MIT DEINEM MÄZEN DIE PLÄTZE ZU TAUSCHEN, schrieb seine Hand auf die Tischplatte selbst.
    »Jetzt nicht!« schrie der Dichter. »Billy ist tot! Laß es mich vollenden. Bitte!« Martin Silenus hatte in seinem langen, langen Leben noch nie gefleht. Jetzt tat er es.
    »Bitte, oh, bitte. Laß es mich vollenden!«
    Das Shrike kam noch einen Schritt näher. Es war jetzt so nahe, daß sein mißgestalteter Körper die Sterne verdeckte und den Dichter in Schatten hüllte.
    NEIN, schrieb die Hand von Martin Silenus, dann ließ er den Federhalter fallen, als das Shrike unendlich lange Arme ausstreckte und die Arme des Dichters mit unendlich scharfen Fingern bis aufs Mark durchschnitt.
    Martin Silenus schrie, als er unter der Kuppel des Speisesaals hervorgezerrt wurde. Er schrie noch, als er Dünen unter sich sah, das Rascheln von Sand unter seinen Schreien hörte und den Baum aus dem Tal emporragen sah.
    Der Baum war größer als das Tal, höher als die Berge, die die Pilger überquert hatten; die höchsten Zweige schienen ins Weltall zu ragen. Der Baum bestand aus Stahl und Chrom, die Äste waren Dornen und Speichen. Menschen wanden sich auf diesen Dornen – Tausende, Zehntausende. Im roten Licht des sterbenden Himmels konzentrierte sich Silenus über

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