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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wir Roger Sherman nicht über den Weg laufen. Er belegt Matheanfängerkurse dort und ist ein Ekel.«
    »Wir werden Roger nicht sehen«, sagte Sol. »Fertig?«
    »Fast.« Rachel beugte sich zu ihrer Mutter und nahm sie in den Arm. »Later, alligator.«
    »While, crocodile«, sagte Sarai.
    »Okay«, sagte Rachel grinsend, deren langes Haar wippte. »Jetzt bin ich fertig.«
     
    Die ständigen Ausflüge nach Bussard City hatten die Anschaffung eines EMV erforderlich gemacht, und eines Tages im Herbst nahm Sol die langsamste Route weit unter den Verkehrsebenen und genoss Anblick und Geruch der abgeernteten Felder. Zahlreiche Männer und Frauen, die auf den Feldern arbeiteten, winkten ihm zu.
    Bussard war seit Sols Kindheit eindrucksvoll gewachsen, aber die Synagoge lag immer noch am Rand einer der ältesten Gegenden der Stadt. Der Tempel war alt, Sol fühlte sich alt, sogar die Jarmulke, die er beim Eintreten aufzog, wirkte urzeitlich und durch jahrzehntelange Benützung abgenutzt, aber der Rabbi war jung. Sol wurde klar, dass der Mann mindestens vierzig sein musste – sein Haar wurde auf beiden Seiten des dunklen Schädels schütter –, doch für ihn war er kaum
mehr als ein Knabe. Sol war erleichtert, als der junge Mann vorschlug, sie sollten ihr Gespräch im Park auf der anderen Straßenseite beenden.
    Sie setzten sich auf eine Parkbank. Sol stellte überrascht fest, dass er die Jarmulke immer noch trug und den Stoff von einer Hand in die andere reichte. Der Tag roch nach verbrannten Blättern und dem Regen der vergangenen Nacht.
    »Ich verstehe nicht ganz, M. Weintraub«, sagte der Rabbi. »Macht Ihnen der Traum zu schaffen – oder die Tatsache, dass Ihre Tochter seit dem Tag krank ist, als Sie den Traum zum ersten Mal gehabt haben?«
    Sol hob den Kopf und spürte das Sonnenlicht im Gesicht. »Weder – noch«, sagte er. »Ich werde nur den Eindruck nicht los, dass zwischen den beiden ein Zusammenhang besteht.«
    Der Rabbi strich mit einem Finger über die Unterlippe. »Wie alt ist Ihre Tochter?«
    »Dreizehn«, sagte Sol nach einer unmerklichen Pause.
    »Und ist die Krankheit … ernst? Lebensgefährlich?«
    »Nicht lebensgefährlich«, sagte Sol. »Noch nicht.«
    Der Rabbi verschränkte die Arme über einem ansehnlichen Bauch. »Sie glauben doch nicht … Darf ich Sie Sol nennen?«
    »Gewiss.«
    »Sol, Sie glauben doch nicht, dass dieser Traum irgendwie die Krankheit Ihres kleinen Mädchens ausgelöst hat? Oder doch?«
    »Nein«, sagte Sol und fragte sich für einen Augenblick tief im Innersten, ob er die Wahrheit sagte. »Nein, Rabbi, ich glaube nicht …«
    »Nennen Sie mich Mort, Sol.«
    »Gut, Mort. Ich bin nicht gekommen, weil ich glaube, dass ich – oder dieser Traum – Rachels Krankheit verursachen. Aber ich glaube, dass mein Unterbewusstsein versucht, mir etwas zu sagen.«

    Mort wippte sacht hin und her. »Vielleicht könnte ein Neurospezialist oder Psychologe Ihnen weiterhelfen, Sol. Ich bin nicht sicher, was ich …«
    »Mich interessiert die Geschichte von Abraham«, unterbrach ihn Sol. »Ich meine, ich habe Erfahrungen mit anderen ethischen Systemen, aber es fällt mir schwer, eines zu verstehen, das damit anfängt, dass ein Vater den Befehl erhält, seinen Sohn zu töten.«
    »Nein, nein, nein!«, rief der Rabbi und fuchtelte mit seltsam kindlichen Fingern. »Als der Zeitpunkt gekommen war, hat Gott Abrahams Hand gehindert. Er hätte kein Menschenopfer in seinem Namen zugelassen. Der Gehorsam gegenüber dem Willen des Herrn war …«
    »Ja«, sagte Sol. »Gehorsam. Aber es steht geschrieben: ›Da aber streckte Abraham die Hand aus und nahm das Messer, seinen Sohn zu opfern.‹ Gott muss Abraham in die Seele gesehen und festgestellt haben, dass er bereit war, Isaak zu töten. Eine bloße Zurschaustellung von Gehorsam ohne innere Überzeugung hätte der Gott der Genesis nicht gelten lassen. Was wäre geschehen, wenn Abraham seinen Sohn mehr geliebt hätte als Gott?«
    Mort trommelte einen Moment mit den Fingern auf dem Knie, dann ergriff er Sol am Oberarm. »Sol, ich sehe, dass die Krankheit Ihrer Tochter Sie durcheinandergebracht hat. Verstricken Sie sich nicht in ein Dokument, das vor achttausend Jahren geschrieben worden ist. Erzählen Sie mir mehr von Ihrem kleinen Mädchen. Ich meine, Kinder sterben nicht mehr an Krankheiten. Nicht im Netz.«
    Sol stand auf, lächelte, ging einen Schritt zurück und befreite seinen Arm. »Ich würde mich gerne länger mit Ihnen unterhalten, Mort.

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