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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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elf Jahre an Freunden und Familie gekostet. Die Zeitschuld ließ sich nicht umgehen.
    Ich kletterte hinter Mike auf die schwebende Matte. Er verstaute den Rucksack zwischen uns, sagte mir, ich sollte mich festhalten, und berührte die Flugmuster. Die Matte erhob sich fünf Meter über den Sims, kippte nach links und schoss über das fremde Meer hinaus. Dreihundert Meter unter uns schäumte die weiße Brandung in der zunehmenden Dunkelheit. Wir stiegen höher über das tosende Wasser und flogen nach Norden in die Nacht.

    In solchen Sekunden einer Entscheidung werden ganze Zukünfte gemacht.
     
    Ich erinnere mich, wie ich bei unserem Zweiten Wiedersehen mit Siri gesprochen habe, kurz nachdem wir zum ersten Mal die Villa an der Küste bei Fevarone besucht hatten. Wir gingen am Strand entlang. Alón hatte die Erlaubnis bekommen, unter Aufsicht von Magritte in der Stadt zu bleiben. Auch gut. Ich fühlte mich in Gegenwart des Jungen nie richtig wohl. Nur der unbestreitbare Ernst seiner grünen Augen und die beunruhigende Spiegelgleichheit seiner kurzen, dunklen Locken und der Stupsnase verbanden ihn in meinem Denken mit mir … mit uns. Das und das rasche, fast sardonische Lächeln, bei dem ich ihn ab und zu erwischte und das er vor Siri verbarg, wenn sie ihn zurechtwies. Dieses Lächeln war zu zynisch amüsiert und selbstgefällig für einen Zehnjährigen. Ich kannte es gut. Ich hatte aber immer gedacht, so etwas würde man lernen, nicht erben.
    »Du weißt sehr wenig«, sagte Siri zu mir. Sie watete ohne Schuhe in der seichten Gischt. Von Zeit zu Zeit hob sie die zerbrechliche Schale einer Muschel hoch, untersuchte sie nach Makeln und ließ sie wieder ins schäumende Wasser fallen.
    »Ich habe eine gute Ausbildung«, sagte ich.
    »Ja, ich bin sicher, dass du eine gute Ausbildung hast«, stimmte Siri zu. »Ich weiß, dass du sehr geschickt bist, Merin. Aber du weißt sehr wenig.«
    Verärgert und nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte, ging ich mit gesenktem Kopf weiter. Ich grub einen weißen Lavastein aus dem Sand und warf ihn weit in die Bucht hinaus. Regenwolken türmten sich am östlichen Horizont auf. Ich wünschte mir, ich wäre wieder an Bord des Schiffs. Diesmal war ich nur widerwillig zurückgekehrt und jetzt wusste ich, dass es ein Fehler war. Es war mein dritter Besuch auf Maui-Covenant,
unser Zweites Wiedersehen, wie es die Dichter und ihr Volk nannten. Ich würde in fünf Monaten einundzwanzig Standardjahre alt werden. Siri hatte vor drei Wochen ihren siebenunddreißigsten Geburtstag gefeiert.
    »Ich habe viele Orte besucht, die du nie gesehen hast«, sagte ich schließlich. Selbst ich fand, dass es sich quengelnd und kindisch anhörte.
    »O ja«, sagte Siri und klatschte in die Hände. Für einen Augenblick erkannte ich in ihrer Begeisterung meine andere Siri: das junge Mädchen, von dem ich die neun langen Monate des Wendemanövers über geträumt hatte. Dann wich das Wunschbild der rauhen Wirklichkeit, und ich sah nur zu deutlich ihr kurzes Haar, die schlaffen Halsmuskeln und die Wülste, die auf den Rücken dieser einst so geliebten Hände auftauchten. »Du hast Orte besucht, die ich nie sehen werde « , sagte Siri. Ihre Stimme war unverändert. Fast unverändert. »Merin, Liebster, du hast bereits Dinge gesehen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann. Du kennst wahrscheinlich mehr Fakten über das Universum, als ich mir je träumen lassen könnte. Aber du weißt sehr wenig, Geliebter.«
    »Verdammt, wovon redest du, Siri?« Ich setzte mich auf einen halb versunkenen Stamm bei dem Streifen nassen Sands und zog die Knie wie einen Zaun zwischen uns hoch.
    Siri kam aus dem Wasser und kniete vor mir hin. Sie nahm meine Hände in ihre, und obwohl meine größer waren, schwerer, Finger und Knochen plumper, konnte ich die Kraft in ihren spüren. Ich stellte mir vor, dass es die Kraft der Jahre war, die ich nicht mit ihr geteilt hatte. »Man muss leben, um wirklich etwas zu wissen, Liebster. Alón hat mir geholfen, das zu begreifen. Wenn man ein Kind großzieht, schärft das das Gespür für all das, was wirklich ist.«
    »Wie meinst du das?«
    Siri sah einen Moment lang blinzelnd in die andere Richtung
und strich sich geistesabwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre linke Hand blieb fest um meine beiden gedrückt. »Ich bin nicht sicher«, sagte sie leise. »Ich glaube, man beginnt zu spüren, wenn etwas nicht wichtig ist. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Wenn man dreißig Jahre

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