Die Hyperion-Gesänge
lang in Zimmer voller Fremder spaziert ist, belastet einen das nicht mehr so sehr wie mit der Hälfte dieser Zeit an Erfahrung. Man weiß, was das Zimmer und die Menschen darin wahrscheinlich für einen bereithalten, und man sieht ihm entgegen. Wenn es nicht da ist, spürt man es vorher, entfernt sich und geht wieder seinen Belangen nach. Man weiß einfach mehr dar über, was ist, was nicht ist und wie wenig Zeit einem bleibt, den Unterschied zu lernen. Verstehst du, Merin? Kannst du mir nur ein klein wenig folgen?«
»Nein«, sagte ich.
Siri nickte und biss sich auf die Unterlippe. Aber sie sagte eine Weile nichts mehr. Stattdessen beugte sie sich zu mir und küsste mich. Ihre Lippen waren trocken und ein kleines bisschen fragend. Ich hielt mich einen Moment lang zurück, betrachtete den Himmel hinter ihr, wollte Zeit zum Nachdenken haben. Aber dann spürte ich, wie ihre warme Zunge eindrang, und machte die Augen zu. Hinter uns kam die Flut. Ich verspürte eine freudige Wärme und Erregung, als Siri mir das Hemd aufknöpfte und mit spitzen Fingernägeln über meine Brust strich. Dann folgte eine Sekunde der Leere zwischen uns, ich schlug die Augen auf und sah gerade noch, wie sie die Knöpfe ihres weißen Kleids aufknöpfte. Ihre Brüste waren größer, als ich sie in Erinnerung hatte, schwerer, die Höfe der Brustwarzen größer und dunkler. Die kalte Luft setzte uns beiden zu, bis ich den Stoff über ihre Schultern herabzog und unsere Oberkörper aneinanderdrückte. Wir rutschten an dem Stamm hinab auf den warmen Sand. Ich zog sie an mich und fragte mich die ganze Zeit, wie ich sie
nur für die Stärkere hatte halten können. Ihre Haut schmeckte nach Salz.
Siris Hände halfen mir. Ihr kurzes Haar lag auf gebleichtem Holz, weißem Stoff und Sand. Mein Puls ging schneller als die Brandung.
»Verstehst du, Merin?«, flüsterte sie mir Sekunden später zu, als ihre Wärme uns verband.
»Ja«, flüsterte ich zurück, aber ich verstand nicht.
Mike näherte sich Firstsite von Osten auf der Schwebematte. Der Flug hatte in der Dunkelheit über eine Stunde gedauert, und ich hatte die ganze Zeit über zusammengekauert im Wind darauf gewartet, dass der Teppich zusammenklappen und uns ins Meer stürzen würde. Wir waren immer noch eine halbe Stunde entfernt, als wir die erste der schwimmenden Inseln sahen. Die Inseln rasten mit geblähten Baumsegeln von ihren südlichen Nahrungsgründen vor dem Sturm dahin – eine scheinbar endlose Prozession. Viele waren strahlend beleuchtet und mit bunten Laternen und wabernden Schleiern von Sommerfäden geschmückt.
»Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist?«, rief ich.
»Ja«, rief Mike. Er drehte den Kopf nicht herum. Der Wind wehte mir sein langes schwarzes Haar ins Gesicht. Von Zeit zu Zeit sah er auf den Kompass und nahm geringe Kurskorrekturen vor. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, den Inseln zu folgen. Wir kamen an einer vorbei – einer großen, fast einen halben Kilometer lang –, und ich strengte mich an, Einzelheiten zu erkennen, aber die Insel war dunkel, abgesehen vom Leuchten ihres phosphoreszierenden Kielwassers. Dunkle Schemen glitten durch die milchigen Wogen. Ich klopfte Mike auf die Schulter und deutete nach unten.
»Delfine!«, rief er. »Darum ging es bei dieser Kolonie, weißt du nicht mehr? Ein paar Wohltäter wollten während der Hegira
sämtliche Meeressäugetiere der Alten Erde retten. Ist ihnen nicht gelungen.«
Ich hätte noch eine Frage gerufen, aber in diesem Augenblick kamen das Festland und Firstsite Harbor in Sicht.
Ich hatte gedacht, die Sterne über Maui-Covenant wären strahlend. Ich hatte gedacht, die schwimmenden Inseln mit ihrem farbenfrohen Schauspiel wären denkwürdig. Aber die Stadt Firstsite, die zwischen dem Hafen und den Hügeln lag, war ein leuchtendes Fanal in der Nacht. Ihr Gleißen erinnerte mich an ein Schlachtschiff, das ich einmal gesehen hatte, als es vor der dunklen Scheibe eines mürrischen Gasriesen seine eigene Plasmanova erzeugt hatte. Die Stadt war eine sechsschichtige Wabe weißer Gebäude, die allesamt vom warmen Licht von Laternen innen und zahllosen Fackeln außen erhellt wurden. Der weiße Lavafels der vulkanischen Insel selbst schien im Licht der Stadt zu leuchten. Hinter der Stadt standen Zelte, Pavillons, Lagerfeuer, Kochfeuer und gewaltige brennende Scheiterhaufen, die so groß waren, dass sie nur einem erdenklichen Zweck dienen konnten – nämlich als Willkommensgruß für die
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