Die Hyperion-Gesänge
Gesellschaft, die eine exakte Nachbildung jeder Welt – besonders aber einer seit vier Jahrhunderten zerstörten Welt – schaffen könnte, Gott nicht suchen müsste. Sie wäre Gott.«
»Genau!«, sagte Ratgeber Albedo lachend. »Ein irres Gerücht … aber köstlich … absolut köstlich!«
Erleichtertes Gelächter füllte das Loch des Schweigens. Spenser Reynolds erzählte von seinem nächsten Projekt – einem Versuch, auf zwanzig Welten Selbstmörder dazu zu bringen,
ihre Sprünge von Brücken zu koordinieren, während das All-Wesen zuschaute –, und Tyrena Wingreen-Feif riss die Aufmerksamkeit an sich, als sie einen Arm um Monsignore Edouard legte und ihn zu einer Nacktbadeparty nach dem Essen in ihrem schwimmenden Heim auf Mare Infinitus einlud.
Ich merkte, wie Ratgeber Albedo mich ansah, drehte mich gerade noch rechtzeitig um, dass ich fragende Blicke von Leigh Hunt und der Präsidentin bemerkte und wandte mich dann den Kellnern zu, die auf silbernen Tellern den nächsten Gang servierten.
Das Dinner war exzellent.
15
Ich ging nicht zu Tyrenas Nacktbadeparty. Und auch nicht Spenser Reynolds, den ich zuletzt in ernster Unterhaltung mit Sudette Chier sah. Ich weiß nicht, ob Monsignore Edouard Tyrenas Lockungen erlag.
Das Dinner war noch nicht ganz vorbei, die Treuhandvorsitzenden hielten kurze Ansprachen, und viele der bedeutenderen Senatoren wurden bereits zappelig, als Leigh Hunt mir zuflüsterte, dass die Gruppe der Präsidentin aufbräche und meine Anwesenheit erforderlich wäre.
Es war fast 23:00 Uhr Netzstandardzeit, und ich ging davon aus, dass die Gruppe ins Regierungszentrum zurückkehren würde, aber als ich durch das Einwegportal trat – ich war der Letzte, abgesehen von den Prätorianerleibwächtern, die die Nachhut bildeten –, stellte ich erschrocken fest, dass wir uns in einem langen Korridor mit Steinmauern befanden, hinter dessen hohen Fenstern ein marsianischer Sonnenaufgang zu sehen war.
Technisch gesehen gehört Mars nicht zum Netz; die älteste
extraterrestrische Kolonie der Menschheit ist absichtlich sehr schwer zu erreichen. Pilger der Zen-Gnostiker, die zum Master’s Rock in Hellas Basin reisen, müssen zur Station Heimatsystem ’casten und mit dem Shuttle von Ganymed oder Europa zum Mars fliegen. Diese Zumutung dauert nur wenige Stunden, aber in einer Gesellschaft, wo alles buchstäblich nur zehn Schritte entfernt ist, sorgt es für einen Hauch von Opfer und Abenteuer. Abgesehen von Historikern und Kakteenzüchtern gibt es kaum jemand, der aus beruflichen Gründen zum Mars müsste. Und da die Zen-Gnostik im Laufe des vergangenen Jahrhunderts einen Niedergang erlebte, reisen auch nicht mehr so viele Pilger dorthin. Niemand interessiert sich für den Mars.
Abgesehen von FORCE. Die Verwaltungszentren von FORCE befinden sich zwar auf TC 2 , und die Stützpunkte sind im Netz und auf den Protektoratswelten verstreut, aber der Mars ist die wahre Heimat der militärischen Organisation, deren Herz die Militärakademie Olympus ist.
Eine kleine Gruppe militärischer VIPs hatte sich zur Begrüßung der kleinen Gruppe politischer VIPs eingefunden, und während die Grüppchen durcheinanderwirbelten wie kollidierende Galaxien, ging ich zu einem Fenster und sah hinaus.
Der Korridor gehörte zu einem Komplex, der in die Oberlippe des Mons Olympus getrieben worden war, und von meiner Position aus, etwa zehn Meilen hoch, sah es so aus, als könnte man den halben Planeten mit einem einzigen Blick erfassen. Von diesem Punkt aus gesehen war der alte Vulkan die ganze Welt, und ein Trick der Perspektive reduzierte Zufahrtsstraßen, die alte Stadt an der Klippenwand und die Elendsviertel und Wälder des Tharsis-Plateaus zu bloßen Klecksen in einer roten Landschaft, die seit dem Tage unverändert zu sein schien, als der erste Mensch einen Fuß auf diese Welt gesetzt,
sie für eine Nation namens Japan in Besitz genommen und ein Foto von ihr gemacht hatte.
Ich sah eine kleine Sonne aufgehen, dachte: Das ist die Sonne, und genoss das unglaubliche Schauspiel des Lichts auf den Wolken, die am endlosen Hang aus der Dunkelheit heraus den Berg hochkrochen, als Leigh Hunt sich näherte. »Die Präsidentin möchte Sie nach der Konferenz sprechen.« Er gab mir zwei Skizzenbücher, die ein Attaché vom Regierungshaus mitgebracht hatte. »Ihnen ist klar, dass alles, was Sie während dieser Konferenz hören und sehen, streng vertraulich ist?«
Ich betrachtete diese Feststellung nicht als
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