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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Selbstverachtung ab. Ich zog mich voll Angst und Schock vor dem Schrecken zurück, der über uns alle kam. Ich wäre zufrieden gewesen, im Bett zu liegen, den Schlaf zu meiden und die Decke bis zum Kinn zu ziehen, während ich um das Netz, das Kind Rachel und mich selbst weinte.
    Ich verließ den Wohnkomplex und begab mich in den Innengarten, wo ich die Kieswege entlangschlenderte. Winzige Mikrosonden summten wie Bienen durch die Luft, eine folgte
mir, als ich durch den Rosengarten ging und das Gelände betrat, wo ein tiefer gelegener Weg sich zwischen feuchten tropischen Pflanzen und in die Sektion der Alten Erde bei der Brücke wand. Ich setzte mich auf die Steinbank, auf der ich mich mit Gladstone unterhalten hatte.
    Vielleicht müssen Sie gar nicht mehr schlafen, um zu träumen. Versuchen Sie es.
    Ich zog die Füße auf die Bank hoch, legte das Kinn auf die Knie, drückte die Fingerspitzen an die Schläfen und schloss die Augen.
    32
    Martin Silenus zuckt und windet sich in der reinsten Poesie des Schmerzes. Ein zwei Meter langer Dorn aus Stahl dringt zwischen den Schulterblättern in seinen Körper ein und kommt auf der Brust wieder heraus; er verjüngt sich einen Meter weiter zur Spitze. Silenus’ rudernde Arme können diese Spitze nicht erreichen. Der Dorn hat keinen Reibungswiderstand, die verschwitzten Finger und Handflächen finden keinen Halt. Aber obwohl der Dorn so glatt ist, rutscht der Körper nicht ab; Silenus ist so fest aufgespießt wie ein ausgestellter Schmetterling.
    Es fließt kein Blut.
    In den Stunden, seit die Vernunft durch den irren Dunst der Schmerzen zurückgekehrt ist, hat sich Martin Silenus darüber gewundert. Kein Blut. Aber Schmerzen. O ja, Schmerzen im Überfluss – Schmerzen, wie sie sich der Dichter schlimmer niemals hätte vorstellen können, Schmerzen jenseits menschlichen Ertragens und den Grenzen des Leids.
    Aber Silenus erträgt. Und Silenus leidet.
    Er schreit zum tausendsten Mal, ein abgehackter Laut ohne
Inhalt, ohne Sprache, nicht einmal Flüche. Worte vermögen solche Qualen nicht zu vermitteln. Silenus schreit und windet sich. Nach einer Weile hängt er nur noch schlaff da, und der lange Dorn wippt leicht als Reaktion auf seine Bewegungen. Über ihm, hinter ihm hängen weitere Menschen, aber Silenus schenkt ihnen kaum Beachtung. Jeder ist abgeschieden in seinem oder ihrem eigenen Kokon der Schmerzen.
    Dies ist die Hölle , denkt Silenus und zitiert Marlowe, und ich bin darin gefangen.
    Aber er weiß, dass es nicht die Hölle ist. Auch kein Leben nach dem Tode. Und er weiß auch, dass dies kein Nebengleis der Wirklichkeit ist; der Dorn durchbohrt seinen Körper ! Acht Zentimeter organischer Stahl in der Brust! Aber er ist nicht gestorben. Er blutet nicht. Dieser Ort ist irgendwo und irgendetwas, aber nicht die Hölle und nicht das Leben.
    Die Zeit hier ist seltsam. Silenus hatte früher schon erfahren müssen, dass sich die Zeit dehnen und verkürzen kann – die Qual des freigelegten Nervs auf dem Zahnarztstuhl, die Nierensteinschmerzen im Wartezimmer des Krankenhauses – da konnte die Zeit langsamer ablaufen, scheinbar stillstehen, während die Zeiger einer betroffenen biologischen Uhr vor Schock stillstanden. Aber da verging die Zeit doch. Die Wurzelbehandlung wurde abgeschlossen. Das Ultramorphin wurde ausgegeben und tat seine Wirkung. Aber hier ist selbst die Luft durch das Fehlen von Zeit erstarrt. Schmerz ist Krümmung und Gischt einer Welle, die nicht bricht.
    Silenus schreit vor Wut und Schmerz. Und windet sich auf seinem Dorn.
    »Gottverdammt!«, bringt er schließlich heraus. »Gottverdammter abgewichster Hurensohn!« Die Worte sind Relikte aus einem anderen Leben, Artefakte eines Traums, in dem er vor der Wirklichkeit des Baums der Schmerzen gelebt hat. Silenus kann sich nur noch halb an dieses Leben erinnern, so wie
er sich nur halb erinnert, wie das Shrike ihn hierhergetragen, ihn hier gepfählt, ihn hier zurückgelassen hat.
    »O Gott!« , schreit der Dichter, umklammert den Dorn mit beiden Händen und versucht sich hochzustemmen, um das Körpergewicht zu entlasten, das zu den unerträglichen Schmerzen beiträgt.
    Unten sieht er eine Landschaft. Er kann meilenweit sehen. Es ist eine erstarrte Pappmachékulisse des Tals der Zeitgräber und der Wüste dahinter. Sogar die tote Stadt und die fernen Berge sind als sterile Plastikminiaturen reproduziert. Einerlei. Für Martin Silenus existieren nur der Baum und die Schmerzen, und diese beiden sind

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