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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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untrennbar. Silenus fletscht die Zähne zu einem gequälten Lächeln. Als er ein Kind auf der Alten Erde war, hatten er und sein bester Freund Amalfi Schwartz einmal eine Christengemeinde im Nordamerikanischen Reservat besucht und deren rohe Theologie kennengelernt, und hinterher hatten sie diese Witze über die Kreuzigung gemacht. Der junge Martin hatte die Arme ausgebreitet, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf gehoben und gesagt: »Herrje, ich kann von hier oben die ganze Stadt sehen.« Amalfi hatte gebrüllt vor Lachen.
    Silenus schreit.
    Die Zeit vergeht nicht wirklich, aber nach einer Weile gelangt Silenus’ Denken wieder zu etwas, das linearer Beobachtung gleichkommt – etwas anderes als die vereinzelten Oasen klarer reinster Schmerzen, die in einer Wüste gedankenlos empfangener Qualen liegen –, und in dieser linearen Wahrnehmung seiner eigenen Schmerzen zwingt Silenus diesem zeitlosen Ort Zeit auf.
    Zuerst helfen Schimpfworte, den Schmerz zu vertreiben. Das Schreien tut weh, aber die Wut klärt und läutert.
    In den erschöpften Pausen zwischen Schreien und Zuckungen der Schmerzen gestattet Silenus sich den Luxus des Denkens.
Anfangs handelt es sich lediglich um das Bemühen zu messen, Zeiteinheiten im Kopf zu rezitieren, damit sich der Schmerz vor zehn Sekunden von dem der folgenden zehn Sekunden unterscheidet. Silenus findet heraus, dass der Schmerz bei der Anstrengung des Konzentrierens etwas nachlässt – er ist immer noch unerträglich, weht immer noch alle Gedanken wie Rauchfähnchen im Wind dahin, aber dennoch um eine unmessbare Einheit verringert.
    Daher konzentriert sich Silenus. Er schreit und tobt und zuckt, aber er konzentriert sich. Da er sich auf nichts anderes konzentrieren kann, konzentriert er sich auf die Schmerzen.
    Schmerzen, stellt er fest, besitzen eine Struktur. Sie haben einen Boden. Sie haben kompliziertere Muster als die Kammern eines Nautilus, barockere Schnörkel als die prunkvollsten gotischen Kathedralen. Selbst während er schreit, studiert Martin Silenus die Struktur seiner Schmerzen. Er stellt fest, dass sie ein Gedicht sind.
    Silenus krümmt Körper und Hals zum zehntausendsten Mal, sucht Erleichterung, wo keine Erleichterung möglich ist, aber diesmal sieht er eine bekannte Gestalt fünf Meter über sich, die an einem ähnlichen Dorn hängt und sich im unwirklichen Wind der Qualen windet.
    »Billy!«, stöhnt Martin Silenus – sein erster wahrer Gedanke.
    Sein einstiger Lehnsherr und Mäzen blickt über einen blinden Abgrund, von den Schmerzen geblendet, die auch Silenus blind gemacht haben, dreht sich aber dennoch etwas um, wie als Antwort auf den Ruf seines Namens an diesem Ort jenseits von Namen.
    »Billy!«, ruft Silenus wieder und verliert dann Sicht und Denken an die Schmerzen. Er konzentriert sich auf die Struktur der Schmerzen und folgt ihren Mustern, als würde er Stamm und Äste und Zweige und Dornen des Baums selbst nachzeichnen. »Mein Herr!«

    Silenus hört eine Stimme über die Schreie hinweg und stellt zu seinem Erstaunen fest, dass Stimme und Schreie gleichermaßen seine eigenen sind:
    »… Du bist ein träumend Ding;
Ein Fieber deiner selbst – denk an die Erde;
Welch Wonnen birgt die Hoffnung selbst für dich?
Welch Zuflucht? Jedes Geschöpf besitzt ein Zuhause;
Ein jeder Mensch kennt Tage voll Freud’ und Leid,
Und sei sein Tun gemein oder erhaben –
In Schmerz allein; in Freud’ allein, verschieden:
Der Träumer nur vergiftet seinen Tag
Und trägt mehr Leid, als seinen Sünden ziemt.«
    Er kennt die Verse – nicht seine, John Keats’ – und spürt, wie die Worte dem scheinbaren Chaos der Schmerzen um ihn herum weiter Struktur verleihen. Silenus begreift, dass die Schmerzen ihn seit der Geburt begleiten – das Geschenk des Universums für einen Dichter. Die körperliche Reflektion dieser Schmerzen hat er gespürt und all die sinnlosen Jahre seines Lebens vergeblich versucht, in Verse umzusetzen, mit Prosa festzuhalten. Es ist schlimmer als Schmerzen; es ist Unglücklichsein, weil das Universum Schmerzen für alle bereithält.
    »Der Träumer nur vergiftet seinen Tag
Und trägt mehr Leid, als seinen Sünden ziemt.«
    Silenus brüllt es hinaus, schreit aber nicht. Das Brüllen des Schmerzes vom Baum, mehr psychisch als physisch, ebbt einen bloßen Sekundenbruchteil ab. Eine Insel der Ablenkung in diesem Meer der Entschlossenheit.
    »Martin!«
    Silenus krümmt sich, hebt den Kopf und versucht, durch
den Nebel der

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