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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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sah, da hat er den Entschluß gefaßt, ihn eines Tages zu töten. Jahr um Jahr hat er sich vorbereitet, und mit jedem Jahr der Vorbereitung ist ihm sein Entschluß richtiger und die spätere Ausführung durchführbarer erschienen. Aber jetzt, da dieser Tag gekommen und der Tod Nicolais in greifbarer Nähe ist, da spürt er keine Freude, ja noch nicht einmal Befriedigung. Er ist entschlossen, auch diesen letzten Schritt zu tun, aber nun, da er ihm so nahe ist, spürt er, daß nichts, auch nicht Nicolais Tod, sein Leben noch einmal zum Besseren wenden wird. Und ein Dialogfetzen aus einem Roman von Dostojewski fällt ihm ein, den er irgendwann, das muß noch in der Schule gewesen sein, gehört oder gelesen hat. Irgendeine Romanfigur sagt da zu einer anderen, daß es doch sein könne, daß die Ewigkeit, also der Himmel oder das Paradies, nichts anderes sei als ein kleines, schmutziges, verräuchertes Zimmer mit Ecken voller Spinnen, und daß es keine andere Ewigkeit, keinen anderen Himmel gäbe als eben dieses kleine Zimmer mit den Spinnen.
    Und genau so kommt es ihm plötzlich auch vor. Nicolais Tod, von dem er sich erhofft hat, daß er ihm Erleichterung, Befriedigung, ja Glück bringe, wird genauso sinnlos sein wie alles andere in seinem Leben seit Florians Tod. Weder Nicolais bevorstehendes Martyrium noch sein Tod werden Weigandt das Leben zurückgeben, das er einmal gehabt hat. Weder die Liebe zu seiner Frau wird er dadurch wiedererlangen, noch seinen Beruf, noch seine Karriere und am allerwenigsten Florian selbst. Nicolais Tod wird ihm statt Erleichterung nur die Gewißheit verschaffen, daß es eben keine Erlösung von all dem gibt, daß der Himmel tatsächlich nichts anderes ist als ein dreckiges Zimmer voller Spinnen. Diese Erkenntnis steht plötzlich so klar vor ihm, daß er sich geradezu erleichtert fühlt. Es gibt keine Hoffnung mehr für ihn, das, woran er sich jahrelang geklammert hat, die Auslöschung Nicolais, bedeutet für sein Leben nichts anderes, als wenn er eine Fliege erschlüge. Er könnte die Tat genausogut nicht begehen, es wäre vollkommen gleichgültig. Für ihn gibt es keine Erlösung mehr. Er kann nur noch mechanisch weitermachen.
    Weigandt sieht Nicolai an, der immer noch vorsichtig aus der Kaffeetasse trinkt. Nicolai ist klein und dicklich; mit seinen graublauen Augen und seinen hellen Haaren sieht er merkwürdig zart und verletzlich aus. Sein dickes Gesicht ist in den Jahren seit dem Gefängnis noch rundlicher geworden. Er trägt nun einen sauber gestutzten Schnurrbart, den er damals in Saarbrücken noch nicht hatte. Niemand würde auf die Idee kommen, daß er mehrere Frauen vergewaltigt und einen Drittklässler ermordet hat. Sein Milchbubi-Aussehen, sein höfliches Benehmen und seine Fähigkeit, sich sprachlich gewählt auszudrücken, haben ihm schon während des Prozesses die Sympathien von Journalisten, Verteidigern und Psychologen eingetragen. Seit er Romane, Theaterstücke und Gedichte veröffentlicht hat, überschlagen sich Medien, Kritiker und Prominente mit ihrer Begeisterung für diesen Knastpoeten, der als Musterbeispiel einer erfolgreichen Resozialisierung gilt.
    Weigandt geht der Gedanke durch den Kopf, daß er nach Nicolais Tod, sollte man ihn fassen, für einen gefährlicheren Verbrecher als Nicolai gelten würde. Für ihn würde kein Jugendstrafrecht gelten, ihm würde man keinen Ossi-Bonus einräumen, nein: er würde lebenslänglich bekommen, schon allein deshalb, weil kein Gericht auf der Welt es mag, wenn jemand das Recht in die eigene Hand nimmt.
    Er muß der Versuchung widerstehen, im Zimmer auf und ab zu gehen und seine Gedanken zu sammeln, um für sich zu begründen, warum er Nicolai überhaupt noch töten will. Eine Verwirrung erfaßt ihn, die ihn von einer Minute auf die andere immer hektischer überlegen läßt, was er hier überhaupt noch soll. Ekel und Abscheu vor der geplanten Tat erfassen ihn.
    Wie oft nach Florians Tod hatte er sich gedacht: wenn Florian doch nur an einer Krankheit gestorben wäre, dann hätte er die letzten Tage und Stunden bei ihm am Bett sitzen und Abschied von seinem Kind nehmen können. Wenn er schon sein eigenes Kind begraben mußte, dann hätte es so geschehen sollen. Aber so ist es nicht gekommen, und daran ist Nicolai schuld. Und wenn Nicolai schon nicht dafür büßen soll, dann soll er ihm wenigstens sagen, was Florian in seinen letzten Stunden ertragen mußte, was er noch getan und gesagt hat und wie es mit ihm zu Ende ging. Das ist

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