Die in der Hölle sind immer die anderen
Kellergang. Er fühlt die warme Stahltür des Heizungsraumes und drückt die Klinke. Die Tür ist abgeschlossen. Er rüttelt am Türgriff mit aller Kraft, aber die Tür bewegt sich keinen Millimeter.
Als er den kalten Stahl an seiner Wange spürt, denkt er einen Augenblick lang, er sei gegen das Treppengeländer gestoßen. Plötzlich flammt ein grelles Licht auf, das ihm genau in die Augen scheint. Nicolai blickt in den gleißenden Kegel einer langen, schwarzen Taschenlampe, mit der Weigandt ihm direkt in die Augen leuchtet.
„Suchst du die Sicherungen?“
Kapitel 12
Schirra berichtete uns nur die notwendigsten Fakten: Ein Ehepaar aus St. Ingbert war am Sonntag mit dem Hund im Wald spazieren gewesen. Zweihundert Meter von einem Autobahnparkplatz entfernt hatte der Hund einen Hügel aus Laub und Zweigen entdeckt, von dem er sich nicht mehr entfernen wollte. Als der Mann den Hund holen ging, sah er aus dem Laubhaufen einen Schuh herausragen. Daraufhin schob er Äste und Laub beiseite und entdeckte darunter die Leiche eines Kindes. Die beiden Rentner gingen daraufhin nach Hause und riefen die Polizei an, die die Leiche unmittelbar danach barg.
„Haben Sie den Toten identifiziert?“ fragte Michael.
Schirra schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht, aber es ist die Leiche eines Kindes. Sie befindet sich jetzt in der Gerichtsmedizin. Das Ergebnis der Obduktion liegt vor. Der Junge wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Nach der Beschreibung und dem Ergebnis der Obduktion könnte es sich um Florian handeln.“
„Können wir ihn sehen?“ fragte ich.
„Ja, natürlich. Ich bin hier, Sie zu bitten, uns bei der Identifikation zu helfen. Wenn Sie wollen“, sagte Schirra tonlos, und dabei schaute er Michael an, „könnten wir das gleich erledigen.“
Er sah zwischen uns hin und her und senkte dann seine Augen.
„Sie wissen schon, ohne Zuschauer und Journalisten.“
Michael stand wortlos auf und ging in Richtung Garderobe.
„Ich komme mit“, sagte ich. Michael versuchte, mich mit matten Worten und leerem Blick davon abzuhalten, aber ich wußte, daß wir das jetzt gemeinsam durchstehen mußten.
„Ich fahre Sie“, sagte Schirra.
In unserer Einfahrt stand sein Privatauto. Auch daran hatte er gedacht.
Es gibt keine anderen Stunden in meinem Leben, an die ich mich so gut erinnere wie an die nun folgenden. Schirra fuhr im Nieselregen über leere Straßen auf die Autobahn nach Homburg zur Universitätsklinik, wo sich die Pathologie des Saarlandes befindet. Wir betraten ein weitläufiges Gebäude, das vollkommen dunkel war. Wir fuhren mit dem Lift zwei Stockwerke in den Keller und gelangten dort in einen langen, niedrigen Gang, der alle zehn Meter von einer Neonröhre erleuchtet wurde. Wir gingen über einen dieser abgetretenen Böden aus PVC-Fliesen, die es nur in Krankenhäusern und Altersheimen gibt. Die Wände waren mit gelber Ölfarbe gestrichen und glänzten fettig. Ich nahm Michaels Hand und drückte sie. Schirra blieb vor einer breiten Stahltür stehen. Wir betraten einen Vorraum, der wie die Ambulanz in einem Krankenhaus aussah. Schirra sperrte eine weitere Tür auf und knipste das Licht an. Wir standen in einer niedrigen Halle, die bis zur Decke hinauf gefliest und vom leisen Summen eines Kühlaggregates erfüllt war. Schirra ging auf eine Wand mit zehn oder fünfzehn kleinen Türen aus Edelstahl zu, die aussahen wie die Schließfächer auf einem Bahnhof. Er öffnete die linke Tür in der Mitte. Dahinter befand sich eine Art Trage aus Stahl. Diese zog Schirra nun mit einem Ruck heraus. Auf der Trage lag ein grauer Plastiksack, durch den der Länge nach ein Reißverschluß lief. Schirra streckte schon seine Hand nach dem Reißverschluß aus, als er innehielt und sich räusperte. Er sah uns von der Seite her an und zögerte einen Augenblick, bevor er sprach.
„Bitte verstehen Sie, daß der Junge durch die Zeit im Wald und die Obduktion stark verändert ist. Sie müssen nur so lange hinsehen, bis Sie eine eindeutige Identifikation vornehmen können.“
Und dann zog er den Reißverschluß mit einem Ruck auf. Auf der Bahre lag ein kleiner, nackter, schrecklich zugerichteter Kadaver - kein anderes Wort gibt es für die menschlichen Reste, die da vor uns lagen. Aus dem Oberkörper ragten die Rippen, gelblich, zerbrochen, von Tieren benagt und nur noch mit einzelnen Hautfetzen bedeckt, wie Spieße in die Luft. Durch die Rippen konnte man in das Innere des Brustraumes hineinsehen. Lunge,
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