Die in der Hölle sind immer die anderen
Leber und Herz fehlten. Das Brustbein war mehrere Male glatt durchgebrochen. Vom Nabel an abwärts war der kleine Körper fast vollkommen skelettiert. Haut und Fleisch waren an vielen Stellen bis auf die Knochen entfernt, die Ränder der Wunden schwärzlich braun. Da, wo die Haut noch dran war, hing sie in fauligen Fetzen von den Knochen. Der linke Fuß fehlte, nur der Oberschenkelknochen ragte abgenagt, braun und schmutzig in die Luft. Vom Gesicht war nichts mehr zu erkennen. Der Schädel war fast überall bis auf den Knochen bloßgelegt. Ein kariertes Flanellhemd, eine Hose, ein Ledergürtel, ein einzelner Schuh und eine Beinschiene lagen in einem durchsichtigen Sack neben der Leiche. Aber ganz egal, wie entstellt die Überreste dieses Menschen da vor uns waren – das, was da auf der Bahre lag, war alles, was die Welt von Florian übriggelassen hatte.
Ich wollte meinen Blick sofort wieder abwenden, aber ich mußte diesen geschundenen kleinen Körper immer und immer wieder ansehen. Ich hörte, wie Michael aufschrie. Mir schossen die Tränen in die Augen, und in meine Brust drang ein glühender Schmerz, der mir für Minuten den Atem raubte. Das Weinen brach aus meiner Kehle und ließ sich nicht mehr stoppen. Michael umarmte mich, und ich spürte seine Tränen an meinem Hals. In mir war nichts mehr, nichts als dieser wahnsinnige Schmerz, der durch alles, was jemals in meinem Leben gut und schön gewesen war, hindurchging, so wie eine Flammenwand durch einen Heuschober geht und nichts zurückläßt als Asche. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Schirra auf den Plastiksack zuging und den Reißverschluß wieder zuziehen wollte.
„Nein“, schrie ich, „nein, nein, nicht, ich will noch einmal mit dir reden, Florian, mein kleiner Flo, mein Flo, wir haben dich nicht beschützt, es tut mir so leid, wir haben dich nicht beschützt.“
Ich heulte, heulte, heulte. Rotz und Wasser, bis nichts mehr kam. Ich konnte meinen Blick nicht von Florian nehmen. Michael stand versteinert neben mir. Die Tränen liefen ihm über die Wangen hinab und tropften auf den Boden. Ich weiß nicht, wie lange wir so vor Florian standen, es muß eine Stunde gewesen sein oder länger. Irgendwann ging Schirra hinaus und kam mit zwei Stühlen wieder herein. Dann ging er nochmal hinaus und kehrte mit zwei dampfenden Teetassen zurück. Als ich auf meine Uhr sah, war es kurz vor zehn. Ich wäre vielleicht die ganze Nacht da drin geblieben, wenn mich nicht Michael irgendwann am Arm genommen und aus dem Raum hinausgeführt hätte.
Im Auto ging mir durch den Kopf, daß das da drinnen nicht Florian gewesen sein konnte. Florian, sagte mir mein Gehirn immer wieder, ist nicht tot, Florian lebt, irgendwo, weit weg vielleicht, aber er lebt. Dieser so entsetzlich zugerichtete Mensch auf dieser Bahre ist nicht unser Florian, das ist das anonyme Opfer irgendeines ganz anderen Verbrechens. Michael saß vorne, und ich hörte ihn immer wieder: nein, nein, nicht sagen. Manchmal weinte er leise, und dann sprach er wieder in einem fast normalen Ton mit sich selbst.
„Sein Bein“, fragte ich Schirra, „was ist mit seinem Bein los, warum fehlt das Bein?“
Als Schirra endlich antwortete, dachte ich bereits, er hätte meine Frage überhört.
„Ich weiß es nicht. Füchse, Hunde, irgendwelche Tiere.“
„Können wir eine Kopie des Obduktionsberichtes bekommen?“
„Können Sie, aber ich glaube nicht, daß Sie den lesen wollen. Behalten Sie Florian so in Erinnerung, wie er war, als er noch lebte.“
„Ich bin Ärztin.“
„Das hilft Ihnen jetzt auch nicht weiter“, sagte Schirra.
***
In den nächsten Wochen verlor ich jeden Glauben, den ich einmal gehabt hatte. Als mein Geist, und nicht nur mein Gefühl, erfaßt hatte, daß Florian tot war, daß er nie wieder zurückkommen würde, da blieb von mir nichts zurück als eine Hülle. All das, was wir Glaube, Wissen, Werte, Einstellungen, Ideen und Traditionen nennen, zerfiel in mir. Ich wurde ein rein mechanisch funktionierendes Wesen, das keinem Menschen, und sicher nicht dem Menschen, der ich einmal gewesen war, noch ähnlich war. Wie hatte ich gebetet an den guten Gott meiner Kindheit, daß dieser Kelch an uns vorüberginge, hunderte Male hatte ich es in vielen Nächten vor mich hingesagt, geschrien, gefleht: Alles, Herr, alles was du willst, kannst du mir nehmen, alles, ihr Mächte da oben im Himmel, will ich gerne hingeben – nur das nicht. Aber genau das war geschehen, den einen hatte man mir genommen, den
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