Die in der Hölle sind immer die anderen
Klamotten, fuhren teure Autos. Ich war so glücklich, da mit dabei zu sein. Aber als sie herausfand, daß ich sie angelogen hatte, da ist die völlig ausgeflippt und hat sofort mit mir Schluß gemacht. Keiner von ihren Freunden hat noch mit mir geredet.“
„Wußte sie von deinen Haftstrafen in der DDR?“
Nicolai nickt.
„Das kam dann auch noch dazu. Ihr Vater war irgendein hohes Tier in der Stadtverwaltung, der kannte jemand bei der Polizei, das muß wohl über den gelaufen sein. Jedenfalls wußte sie plötzlich, daß ich in der DDR im Knast gesessen hatte. Und dann war’s ganz aus. Ich bekam ein Schreiben von so einem Anwalt, der mir die unglaublichsten Strafen androhte, wenn ich mich Monja auch nur auf fünfhundert Meter näherte.“
Weigandt steht auf und zieht seinen Rollkragenpullover aus. Er steht jetzt im Unterhemd vor Nicolai. Seine Brust und seine sehnigen, aber muskulösen Schultern sind mit weißen Haaren bedeckt. Er öffnet die Klettverschlüsse des Schulterholsters und streift es ab.
„Was war denn so schlimm daran, daß sie dich verlassen hat? Das passiert doch jedem einmal.“
„Als sie weg war, war ich vollkommen allein. Ich hatte Angst vor den Wochenenden. Der Samstag war noch erträglich, da ging ich zum Einkaufen und hab mich dann vollgesoffen. Aber der Sonntag war eine Katastrophe. Alle sind bei ihren Familien, essen zusammen, unterhalten sich, trinken Kaffee – nur ich nicht. Ich lag bis zum Nachmittag im Bett, dann bin ich aufgestanden und habe mir Pornovideos angeschaut. Oder ich bin ins Kino gegangen. Da hab ich dann immer nur Paare getroffen. In Lokalen oder Bars war’s genau das gleiche. Alle waren zu zweit oder in Gruppen. Nur ich war allein. Ich war richtig froh, wenn die Woche wieder anfing, weil ich dann endlich wieder Leute zum Reden hatte.“
Weigandt nickt über die Schulter hinweg. Dann geht er in den Flur hinaus, schließt die Tür von außen ab und verschwindet für einige Minuten. Als er zurückkommt, trägt er einen schmalen Ordner unter dem Arm. In der Hand hält er eine Schachtel Zigaretten, ein Feuerzeug und eine Cola-Dose. Er wirft die Zigaretten und die Cola Nicolai in den Schoß.
„Und diese Enttäuschungen haben in dir den Wunsch ausgelöst, einen Menschen zu töten?“
„Das stimmt nicht.“
„Das hast du der Polizei erzählt.“
„Das habe ich alles später widerrufen.“
„Ja, auf Anraten deiner Anwältin, aber zuerst einmal hast du es gesagt.“
„Es war aber nicht so.“
„Wie war es dann?“
„Es kam nicht plötzlich. Es hat sich etwas in mir aufgebaut, ein Zwang, hinauszugehen und einem Menschen wehzutun. Ich hatte dieses Gefühl früher schon gehabt, schon als Jugendlicher, ja als Kind, würde ich sagen, aber noch nie so stark. In Saarbrücken ist irgendwas in mir durchgebrochen, fast wie eine Krankheit. Früher sind solche Ausbrüche immer wieder vorbeigegangen. Aber dieses Mal war es anders. Der Haß auf alle und jeden und der Wunsch, ja der Zwang zu töten blieben in mir über Wochen und Monate. Irgendwann war das total in mir drin. Das ging nicht mehr fort. Ich war dauernd nervös, konnte weder arbeiten noch schlafen noch sonstwas tun. Das einzige, was mir damals noch half, waren Tabletten und Autofahren.“
„Wieso Autofahren?“
„Autofahren hat mich beruhigt. Nachdem Monja Schluß gemacht hat ...“
„Wann war das genau?“
Nicolai trinkt die Cola aus und zündet sich wieder eine Zigarette an.
„Im August. Monja war damals schon mit ihrem neuen Typen auf Urlaub. Da hab ich mich jedes Wochenende ins Auto gesetzt und bin kreuz und quer durch die Gegend gefahren. Ich bin an manchen Wochenenden tausend Kilometer gefahren und mehr, ziellos, vollgesoffen, aber immer auf der Suche.“
„Nach was?“
„Nach einem Kind natürlich. In den Wochen, bevor ich Ihren Jungen ins Auto gezerrt habe, da hatte ich mir schon mindestens zwanzig andere Kinder auf der Straße ausgesucht, die ich in meine Gewalt bringen wollte. Zwanzig Kinder, die heute noch leben, weil immer was dazwischen gekommen ist, weil zu viele Leute in der Nähe waren, weil die Kinder sofort zu schreien anfingen, wenn ich sie zu fassen bekam, oder weil mich im entscheidenden Moment der Mut verließ.“
Nicolai spricht nun mit lauter, lebhafter Stimme. Er sieht plötzlich besser aus. Es tut ihm gut, die Vorgänge von damals zu schildern. Weigandt spürt, daß Nicolai kurz davor ist, ihm alles zu erzählen.
„Was ist unmittelbar vor dem 12. Oktober 1992
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