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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Normalität zurückkehren würden.
    Das fing mit unseren Jobs an. Weder Michael noch ich waren seit Florians Verschwinden zur Arbeit erschienen. Michael war von der Zentrale in Frankfurt freigestellt worden, ich war krankgeschrieben. Wir hofften damals beide noch, wir würden irgendwann wieder einmal ein normales Leben führen können, ein Leben, das zumindest äußerlich unserem Leben vor Florians Tod glich. Was für eine törichte Illusion! Heute weiß ich, daß keine Bewältigung und keine Trauerarbeit uns jemals den Schmerz im Inneren wegnehmen können. Für Fälle wie uns gibt es keine Therapie. Die Wunde in Michael und mir wird nie mehr heilen. Wir haben nie wieder zu einem normalen Leben zurückgefunden. Aber im Winter des Jahres 1992 auf 1993 waren wir noch davon überzeugt, daß wir Florians Tod überwinden könnten, und deshalb begannen wir beide im Januar 1993 wieder zu arbeiten.
    Für mich war das einfacher als für Michael. Seit Florian mit der Schule angefangen hatte, arbeitete ich in Teilzeit bei einem belgischen Pharmaunternehmen in Homburg. Ich arbeitete im Innendienst und mußte mich nur darum kümmern, daß unsere Marketingaktionen für Vitamine und Naturheilmittel mit der Werbeagentur, dem Außendienst und der Logistik koordiniert wurden. Ich war überqualifiziert, meine Aufgaben und mein Gehalt mittelmäßig, aber wir brauchten das Geld. Dafür war die Führung im Unternehmen lax und mein Chef auf eine nachlässige Art menschlich. Er drückte beide Augen zu, wenn ich während der Arbeit zum Einkaufen oder auf Ämter ging und den ganzen Tag privat telefonierte. Ich hatte gute Aussichten, auch in meinem angeschlagenen Zustand bei diesem Unternehmen die nächsten Jahre überdauern zu können.
    Für Michael war es anders. Man sagt manchmal von einem Menschen leichthin: für ihn brach eine Welt zusammen, wenn er sich nur ein bestimmtes Auto nicht leisten kann, aber auf Michael traf dieser Satz voll und ganz zu. Für ihn war seine ganze Welt zusammengebrochen. Michael hat keine Hobbys und keine Freunde. Er hat sich nie für etwas anderes interessiert als für seinen Beruf und für Florian. Er war der glücklichste Vater, den ich je gesehen habe. Florian war für ihn das Ziel und der Inhalt all seiner Gefühle und Wünsche. Florian sollte die Kindheit haben, die er nie gehabt hatte. Das war auch der Grund, warum Michael über Florians Behinderung nicht traurig war. Gewiß, er sorgte sich und ihm wäre es auch lieber gewesen, wenn Florian nicht so oft im Krankenhaus gewesen wäre, aber in neun Jahren beklagte er sich nicht einmal über all die Mühe und Sorgen, die wir Florians wegen hatten. Manchmal denke ich, er war im Innersten dankbar, daß es da einen kleinen, hilflosen Menschen gab, der seine Hilfe und Zuneigung brauchte, denn je hilfloser Florian war, desto mehr Zuwendung und Liebe konnte Michael ihm geben und desto abhängiger war Florian von seinem Vater.
    Michael betrachtete Florian von Anfang an nie als Kind, sondern immer als eine Art jüngeren Freund. Er redete mit ihm wie mit einem Erwachsenen und behandelte ihn auch so. Als Florian irgendwann begriff, was er da für einen Vater hatte, begann er das auszunutzen. Jeder Wunsch wurde ihm erfüllt. Michael verschob geschäftliche Besprechungen, um Florian zu Kindergeburtstagen zu fahren. Wenn ich was von Verwöhnen sagte, bekam ich zu hören: Aber er ist doch sowieso so arm dran mit seinem Fuß. Ich will nicht, daß er so aufwächst wie ich.
    Florian war für Michael Kind, Sohn, Erbe, bester Freund und Ersatz für eine Frau, die er nicht mehr liebte. Florian, denke ich mir heute manchmal, erlöste Michael von seiner eigenen lieblosen Kindheit. – Und nun war Florian tot.
    Michael versuchte mit eiserner Disziplin, sein gewohntes Leben weiterzuführen. Er ging wie früher jeden Tag ins Büro und versuchte durch seine Arbeit, die Gedanken an Florian, an die Fahndung, die immer noch keinen Erfolg vorweisen konnte, und an den Menschen, der Florian so schrecklich zugerichtet hatte, zu verdrängen. Meinen Rat, eine Therapie zu machen oder einige Monate auszusetzen, lehnte er brüsk ab: Ich fühle mich doch nicht besser, wenn ich zu Hause rumsitze und die ganze Zeit rumgrüble, ganz im Gegenteil, die Arbeit tut mir gut und bringt mich auf andere Gedanken .
    Aber es gab kaum einen Arbeitstag, an dem er bis zum Abend durchhielt. Er konnte sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren. Es geschah einige Male, daß er vor Mitarbeitern und Mandanten in

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