Die in der Hölle sind immer die anderen
zumindest den professionellen kennen?“ fragte Michael.
Schirra lachte.
„Sie können von mir aus beide wissen. Der erste Grund ist, daß ich zur Kripo gegangen bin, um Verbrecher zu fassen, und nicht, um sie laufen zu lassen. Das hat was mit meiner Berufsehre zu tun. Um Ihnen den anderen Grund zu nennen, werde ich etwas länger brauchen.“
Michael schenkte nach.
„Der andere Grund ist ganz einfach der, daß ich weiß, in welcher Situation Sie sich befinden, zumindest habe ich eine Ahnung davon. Darum habe ich es auch nie sehr ernst genommen, wenn Ihnen mal der Gaul durchgegangen ist. Ich bin einmal in einer ähnlichen Situation gewesen, auch wenn ich nie ein Kind durch ein Verbrechen verloren habe.
Ich habe Ihnen ja erzählt, daß meine Mutter aus Frankreich stammte, und zwar aus Bitche. Als ich fünfzehn war, ist sie an einem Abend mit dem Auto weggefahren und nicht mehr zurückgekommen. Das war eigentlich nichts Besonderes, denn sie ist fast jede Woche zu meinen Großeltern nach Bitche gefahren. An diesem Abend aber ist meine Mutter von der Straße abgekommen, in ein Flüßchen geschleudert und in ihrem Renault ertrunken. Das war aber nicht das einzige, was die Polizei meinem Vater damals eröffnete. Es stellte sich heraus, daß meine Mutter in Frankreich einen Geliebten gehabt und ihn jahrelang besucht hatte.
Als sie tot war, haben sich die Leute die Mäuler zerrissen und meinem Vater gesagt, er solle froh sein, daß er die Schlampe los sei. Nun, mein Vater hat meine Mutter nicht nur geliebt, er hat sie angebetet. Sie war eine bildschöne Frau, und er hat sich sein ganzes Leben gefragt, wie eine solche Schönheit einen so mittelmäßigen Mann wie ihn heiraten konnte. Je mehr die Leute über sie herzogen, desto mehr verehrte er meine Mutter. Es machte ihm überhaupt nichts aus, daß sie ein Verhältnis gehabt hatte, ja er machte diesen Mann ausfindig und lud ihn zur Beerdigung ein. Mein Vater war ein Romantiker und ein Menschenfreund, und er dachte vermutlich an so was wie die Begegnung zwischen Karenin und Wronskij.
Einige Monate nach dem Tod meiner Mutter kam ich einmal in die Küche und da stand mein Vater: ungekämmt, unrasiert, in Unterhemd und Trainingshosen, die Tränen liefen ihm über die Wangen herab. Mir war es peinlich, ihn so verwahrlost zu sehen, und ich mochte es nicht, daß er dauernd vor mir und meinem Bruder zu heulen anfing. Ich muß ihn wohl blöd angeredet haben, denn er weinte noch mehr. Er schniefte noch eine Zeitlang, und dann sah er mich ernst an. ‚Weißt du‘, sagte er, ‚wenn jemand anderem etwas Furchtbares passiert, dann weiß man nie, wie das ist. Man muß das am eigenen Leib gespürt haben, damit man es begreift. Und nur darum reden diese Leute so schlecht von deiner Mutter. Weil sie genau wissen: Die in der Hölle, das sind immer die anderen, aber nicht sie selbst.‘“
„Ich weiß überhaupt nicht, was diese komische Geschichte von seiner Mutter mit unserer Situation zu tun hat und diesem Anruf von Lacour“, sagte Michael, als Schirra gegangen war.
Kapitel 17
„Wie hast du Florian getötet?“
Nicolais Stimme ist nun so leise und heiser, daß Weigandt sich zu ihm hinunterbeugen muß, um ihn zu verstehen.
„Ich wollte ihn überhaupt nicht töten. Ich habe den Jungen wieder angezogen, und genau da wollte ich ihn laufenlassen, ich hab zu ihm gesagt, er soll gehen. Aber da sagt er zu mir: ‚Es wird gleich dunkel, ich kann doch nicht bis nach Saarbrücken gehen. Bringen Sie mich nach Hause. Ich muß zu meinen Eltern‘.“
„Und warum hast du das nicht getan? Warum hast du ihn nicht einfach zum McDonald‘s gebracht und da auf dem Parkplatz aussteigen lassen?“
„Weil er plötzlich Hilfe geschrien hat, immer wieder: Hilfe, Hilfe . Da hab ich total die Nerven verloren. Irgendwas explodierte in mir. Ich hatte Angst, daß alles auffliegen würde, daß der Junge mich wiedererkennen würde, daß ...“
„Das ist dir alles eingefallen, nachdem du ihn entführt und zweimal vergewaltigt hattest?“
„Ich hatte mir vorher nichts dabei gedacht. Aber da am Abend im Wald mit dem weinenden, blutenden Jungen, da wollte ich von allem weg: von mir selbst, von dieser Geschichte, von dem Jungen. Ich wünschte mir plötzlich, daß es diesen ganzen Tag nie gegeben hätte.“
Weigandt sieht ihn an und schweigt. Nicolai zündet sich wieder eine Zigarette an und raucht sie, ohne etwas zu sagen, zu Ende.
„Im Obduktionsbericht steht, daß Florians
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