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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Monaten sterben. Es begann alles ganz harmlos an einem Winterabend, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Michael lag im Trainingsanzug auf der Couch im Wohnzimmer und schlief. Er wog nun hundertdreißig Kilo, hatte sich einen struppigen Kinnbart wachsen lassen, trug nie mehr eine Krawatte und nur noch selten ein sauberes Hemd. Wenn ich nach Hause kam, hatte er an den meisten Tagen bereits eine Flasche Wein geleert und die Kreuzworträtsel in der Zeitung gelöst. Er ernährte sich aus Dosen und von Tiefkühlpizza. Der Mann, der früher zweimal im Jahr den Fernseher angeschaltet hatte, kannte nun jede Vorabendserie und jede Spieleshow.
    Als ich den Mantel ausgezogen hatte und ins Wohnzimmer kam, lag er schlafend auf der Couch. Sein Gesicht war grau, schweißnaß und teigig. Ich redete ihn mehrmals an, aber er reagierte nicht. Ich rüttelte und schüttelte ihn, aber es war zwecklos: Er war bewußtlos. Sein Atem ging flach und rasselnd. Ich rief den Krankenwagen. Er kam keine Minute zu spät: Michael hatte einen Herzinfarkt erlitten. Es muß nur Minuten geschehen sein, bevor ich nach Hause gekommen war, sonst hätte er nicht überlebt.
    Drei Monate lag er im Krankenhaus. Nach zwei Wochen kam eine Lungenentzündung dazu.
    In einer Nacht rief mich der Stationsarzt an und sagte: Kommen Sie sofort, wenn Sie Ihren Mann noch einmal sehen wollen . Sie hatten ihn auf die Intensivstation verlegt. Er wurde künstlich beatmet; Schläuche und Leitungen ragten überall aus seinem Körper heraus. Ich beugte mich über ihn, seine Augen waren weit offen, aber er erkannte mich nicht.
    „Er kann jeden Augenblick in ein Koma fallen“, sagte der junge Arzt hinter mir.
    Eine Woche lang sah es so aus, als würde er von einem auf den anderen Tag sterben. Als ich ihn da liegen und um sein Leben kämpfen sah, kamen mir die guten Zeiten unserer Ehe in den Sinn. Vor meinem inneren Auge tauchte immer wieder ein Bild auf: Michael steht im offenen Mantel vor dem Haus, in dem ich wohnte, als wir uns kennenlernten. Er will mir etwas sagen, traut sich aber nicht so recht und sucht nach den richtigen Worten. Das Licht im Treppenhaus geht alle paar Minuten aus, und Michael drückt immer wieder auf den Schalter, als hätte er Angst davor, mit mir im Dunkeln allein zu sein. Es beginnt zu regnen, ich friere und will in meine Wohnung hinauf. Als das Licht zum fünften Mal ausgeht, will ich auf den Schalter drücken, als ich seine Hand auf meiner spüre.
    „Nicht“, sagt er, „das, was ich dir jetzt sagen will, kann ich nur im Dunkeln sagen.“ Und dann fragt er mich, ob ich seine Frau werden will.
    Und plötzlich erfaßte mich eine wilde Sehnsucht nach Michael, danach, daß er weiterlebt und sein Schicksal weiter mit mir teilt. Nur du weißt, was Florian uns bedeutet, hatte er einmal zu mir gesagt, und nur mit dir kann ich über ihn und seinen Tod reden. Nur in seiner und meiner Erinnerung lebte Florian fort, und wenn ich Michael nun auch noch verlor, dann wäre jedes Band zu der Welt, die einmal unsere kleine Familie gewesen war, gerissen.
    Wochenlang lag er auf der Intensivstation. Er genas nur langsam. Grau, müde und in der Aprilkälte schlotternd stieg er aus dem Auto, als ich ihn vom Krankenhaus abholte. Er konnte keine drei Treppen steigen, ohne zu verschnaufen. Sein Blutdruck lag nun bei zweihundert zu neunzig, und seine Hände zitterten wie die eines Parkinson-Kranken.
    „Einen zweiten Herzinfarkt wird er nicht überleben“, hatte der Arzt mir gesagt.
    Von nun an mußte er sich schonen, strenge Diät einhalten und langsam mit Spaziergängen um das Haus beginnen. An eine regelmäßige Arbeit war nach Aussage des Arztes nicht zu denken. Kein Problem, Michael war sowieso arbeitslos.
    Ich war also ziemlich überrascht, als er mich eines Tages nach drei, vier Monaten fragte, ob er am nächsten Tag das Auto haben könnte. Er müsse nach Zweibrücken, geschäftlich, wie er sagte. Ich wußte nicht, welchen Geschäften er noch nachging, denn offiziell war er nun Sozialhilfeempfänger, aber alles war besser, als wenn er immer nur zu Hause herumhing. Als er am Abend nach Hause kam, war er so gut aufgelegt, wie ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, wollte mir aber nicht erzählen, was er in Zweibrücken unternommen hatte. Das wiederholte sich von nun an jede Woche. Zweimal in der Woche nahm ich den Bus, und er fuhr in Geschäften nach Zweibrücken. Das ging einige Monate so. Ich machte mir Sorgen um seine Gesundheit, aber er kam jedes Mal so

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