Die in der Hölle sind immer die anderen
Badewanne.
Er geht ins Erdgeschoß hinunter. Die Zeit läuft ihm davon, er muß weg. Im Wohnzimmer nimmt er aus der Sporttasche eine Zeitschaltuhr und steckt sie in die Steckdose hinter der Stehlampe. Er justiert die beiden Einstellräder so, daß die Stehlampe von sechs Uhr abends bis kurz vor Mitternacht brennen wird. Ebenso verfährt er mit der Lampe im Flur, deren Schein durch die Haustür nach draußen dringt. Er weiß, daß er mit diesen primitiven Vorsichtsmaßnahmen niemanden lange täuschen kann, aber für die Nachbarn und für einige Tage sollte es genügen.
Als er damit fertig ist, geht er nochmal durch alle Zimmer im Haus. Er packt alles, was irgendwie mit ihm in Verbindung zu bringen ist, in Müllsäcke, saugt Teppiche und Böden und wischt Oberflächen, Türklinken, Griffe und Toiletten mit einem Putzlappen blank. Kurz nach sechs Uhr früh ist er mit allem fertig. Ein letztes Mal geht er in den ersten Stock hinauf. Der Abflußreiniger hat die Beschichtung der Badewanne bis auf das Metall weggefressen. Weigandt öffnet in einem plötzlichen Einfall Nicolais Badezimmerschrank. Da stehen zwei Reihen teurer After Shaves, ein Rasierpinsel aus Dachshaar, ein Elektrorasierer und ein Vergrößerungsspiegel. In einer letzten Anwandlung von Wut wirft Weigandt die Sachen in den zähen Brei, der Nicolais Überreste umspült.
Als er das Haus verläßt, ist der Himmel sternenklar. Die letzten Wolken verschwinden am Horizont nach Osten. Der Wind ist warm und nebelfeucht. Weigandt stellt den Müllsack und die Sporttaschen in den Kofferraum, dann startet er das Auto. Er blickt Nicolais Doppelhaushälfte lange an. Noch vor einem Tag wird Nicolai ganz selbstverständlich angenommen haben, daß noch ein langes und erfolgreiches Leben vor ihm liege. Und jetzt ist es vorbei.
Fünf Minuten lang fährt Weigandt durch das menschenleere Geußnitz, dann fädelt er mit dem Wagen in die Bundesstraße nach Leipzig ein.
***
Als er vor Leipzig auf die Autobahn auffährt, geht die Sonne auf. Im Osten erscheint zuerst ein blasser, rötlich-brauner Streifen am Horizont, der nach und nach breiter und heller wird, bis er in ein goldenes Orange übergeht, das bald den ganzen Horizont überglänzt. Nach zwei Stunden auf der Autobahn spürt Weigandt einen Heißhunger auf Kaffee und frische Brötchen. Er ignoriert seinen Magen eine Stunde lang, aber dann ist das Verlangen nach einem heißen Kaffee so stark, daß er an der nächsten Raststätte anhält. Zuerst wagt er es nicht, den Wagen zu verlassen. Er schaut durch die Scheiben in die Raststätte, wo Lastwagenfahrer beim Frühstück sitzen. Schließlich setzt er eine Sonnenbrille und eine Mütze auf, zieht einen Mantel an und geht in die Raststätte hinein. Die Frau an der Kasse sieht ihn auffallend lange an. Aber der heiße Kaffee ist das Risiko wert gewesen. Gestärkt und von neuer Kraft erfüllt geht er zum Auto zurück.
Die Telefonzelle fällt ihm erst auf, als er schon wieder im Auto sitzt, und genau in diesem Moment kommt ihm eine Idee. Er steigt wieder aus und geht zur Telefonzelle hinüber. Er überlegt, ob die vom Auftragsdienst wohl um diese Zeit schon arbeiten. Tatsächlich, eine freundliche Stimme fragt, was sie für ihn tun könne.
„Ich möchte den telefonischen Ansagedienst in Anspruch nehmen.“
„Für welche Nummer.“
Er nennt Nicolais Nummer.
„Und welche Ansage wünschen Sie und für wie lange?“
Ohne lange zu überlegen, sagt er: „Ich bin jetzt für zwei Wochen nicht zu erreichen, dann melde ich mich wieder.“
„Und ab wann soll Ihre Ansage zu hören sein?“
„Ab sofort.“
„Die Gebühren werden mit der nächsten Telefonrechnung berechnet“, sagt die nette Stimme noch.
Die Gebühren werden mit der nächsten Telefonrechnung berechnet , wiederholt er auf dem Weg zum Auto, und plötzlich lacht er. Der Satz gefällt ihm.
Kapitel 20
Als der Prozeß vorüber war, wurde unser Leben ruhiger. Nicolai befand sich weit weg in einer geschlossenen Anstalt im Maßregelvollzug, wo er therapiert werden sollte. Mehr wußten wir nicht von ihm. Ich hatte bereits damals Angst vor dem Tag, an dem man ihn entlassen würde, aber noch lag dieser Tag in weiter Ferne.
Michael war noch immer arbeitslos. Durch Florians Tod war er chronisch krank geworden. Er litt an hohem Blutdruck, Herzrhythmusstörungen und Schmerzen in der Brust. 1995 verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand so stark, daß es den Anschein hatte, als würde er binnen
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