Die in der Hölle sind immer die anderen
blickte ernst und feierlich über die Felder hinweg zum Horizont.
„Und was machst du jetzt hier?“
„Ich bin ehrenamtlicher Helfer. Es gibt acht Kinder, die immer hier sind, eines davon ist Daniel. Zusammen mit einer Schwester teile ich mir die Betreuung von Daniel.“
„Und alle diese Kinder sind krank?“
„Sie sind nicht krank, sie sind todkrank. Keines dieser Kinder wird in zwei, drei Jahren noch am Leben sein. Für jedes wird sich dann ein solches Windrad drehen.“
„Wie hältst du das aus?“
Als ich das gesagt hatte, sah er mich so an, wie er mich früher schon immer angesehen hatte – wie ein Lehrer, der einem dummen Schüler alles nochmal von vorne erklären muß. Nur die Arroganz war aus seinen Augen verschwunden, statt der lagen nun Wärme und Mitleid darin, aber immer noch das alte Unverständnis.
„Jedes dieser Kinder ist Florian für mich, und für jedes dieser Kinder werde ich das tun, was ich für Florian nicht tun konnte.“
Das war also der Grund.
„Machst du dir oder mir Vorwürfe wegen Florians Tod?“
Ich wußte, daß er sich Vorwürfe machte, aber ich hatte ihm diese Frage noch nie direkt gestellt, weil ich Angst hatte, er würde antworten: Die einzige, die sich Vorwürfe zu machen hat, bist du . Aber das sagte er nicht.
„Am Anfang habe ich mir Vorwürfe gemacht, mir und dir. Heute denke ich nicht mehr, daß wir an Florians Tod schuld sind. Ich bin also nicht hier, um etwas zu sühnen, wie du vielleicht annimmst. Ich bin einfach nur deshalb hier, weil ich diesen Kindern etwas geben will, was ich Florian nicht mehr geben kann, und ich bin auch hier, weil ich Kinder mag und Kinder um uns herum vermisse.“
Ich war erstaunt und froh zugleich, als ich das hörte. Da sprach ein anderer, ein neuer Michael, das war eine Seite, die ich nicht an ihm kannte. Und so sehr mich diese Wandlung bis heute begeistert, er hat mir damals nicht die ganze Wahrheit erzählt. Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, daß er auch deshalb nach Zweibrücken fuhr, um Buße zu tun. Nur büßte er nicht für etwas, das er getan hatte, nein, bei ihm war es wie so oft ein bißchen komplizierter: Er büßte, wie ich heute weiß, im Voraus, er büßte die Taten, die er bereits damals in seinem Kopf plante, aber noch nicht begangen hatte.
***
Heute weiß ich, daß mit dieser ehrenamtlichen Tätigkeit Michaels erstaunliche Genesung begann. Ich bewunderte ihn für sein Engagement; ich wäre dazu nie in der Lage gewesen. Michael verbrachte Tage und Nächte im Hospiz. Als Daniel starb, trauerte er zusammen mit den Eltern, organisierte die Beerdigung und erledigte Behördengänge. Jedes Jahr starben zwei oder drei Kinder, die er betreut hatte. Er saß an ihren Betten, bis sie starben, und hielt nicht selten ihre Hand, wenn sie schon tot waren. Er kaufte Blumen, Geschenke und Andenken, er fütterte, wickelte und verabreichte Medikamente zu allen Tages- und Nachtzeiten. Er tröstete Elternpaare genauso wie alleinerziehende Mütter und Großeltern, er suchte Grabstätten aus und kümmerte sich um Versicherungen, ärztliche Bescheinigungen und den Schriftverkehr mit Behörden. Und für all das nahm er in fünf Jahren nie eine Mark. Über sein ungeduldiges, zorniges Wesen legte sich eine milde, ruhige Zuversicht. Er war ein anderer Mensch geworden. Zumindest schien es so.
„Ihr Mann ist ein Heiliger“, sagte die Mater Oberin, die das Hospiz leitete, mehr als einmal zu mir.
Aber Michaels wahre Stunde schlug erst, als ihm eines Tages der Jahresabschluß der Trägergesellschaft des Hospizes in die Hände fiel. Seit Jahren hatte er nicht mehr in seinem Beruf gearbeitet. Er hatte mir oft erklärt, daß er nicht einmal mehr als Lohnbuchhalter arbeiten könnte.
An einem Sonntag aber saß er im Wohnzimmer, vor sich einen Haufen Blätter, und sagte: „So macht man doch keinen Jahresabschluß für eine Stiftung.“
Das muß er wohl auch zur Oberin der Franziskanerinnen gesagt haben, denn als er das nächste Mal aus Zweibrücken kam, war er bereits damit beschäftigt, den Abschluß für das Hospiz zu erstellen. Kurz darauf übernahm er die Steuerberatung für die Hospiz-Stiftung.
Damit war der Bann gebrochen. Nach einem Jahr hatte er die steuerliche Betreuung von drei oder vier kirchlichen Organisationen im Saarland übernommen. Nach einem weiteren Jahr mietete er ein kleines Büro nicht weit von unserer Wohnung. Bald wurde die Arbeit so viel, daß er eine Sekretärin und einen Buchhalter einstellen mußte. Im
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