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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Jahr darauf gründeten wir zusammen eine Steuerberatungsgesellschaft, die schon bald acht Mitarbeiter hatte. Geschäftlich war er von den Toten auferstanden. Er betreute nun Stiftungen, vermögende Privatleute und kleine Firmenkunden, nicht mehr die großen Unternehmen, für die er einst gearbeitet hatte. Aber das war kein Nachteil. Er hatte weniger Streß, er war zufriedener, und es ging ihm besser.
    Ich fand, ebenfalls in dieser Zeit, eine neue Stellung als Laborärztin in einem Forschungsinstitut. Ich mußte mich in viele Bereiche wieder einarbeiten, in denen ich seit meinem Studium nicht mehr gearbeitet hatte, aber die Arbeit im Labor mit ihren festen Arbeitszeiten und der Reiz der neuen Tätigkeit waren eine Wohltat nach all den Jahren im Pharmavertrieb. Ich war mittlerweile zweiundfünfzig Jahre alt und hatte das viele Fahren satt.
    Unser Leben wurde still und ereignislos. Wir entdeckten eine bescheidene Zufriedenheit, die wir beide nie gekannt hatten. 1997 kauften wir ein kleines, altes Haus in Homburg, nicht weit von der Brauerei. Das Haus war weder schön noch in einem guten Zustand, aber es stand am Ende einer ruhigen Straße direkt am Waldrand, und es war billig. Wir renovierten es über die Jahre und fingen an, uns darin wohl zu fühlen. Noch einmal richteten wir Florians Kinderzimmer ein, noch einmal räumte ich Schränke und Schubladen für ihn ein, noch einmal kamen die Noten aufs Klavier. Als alles fertig war, sah sein Zimmer wieder so aus, als wäre er nie einen Tag fort gewesen. Auf seinem Kissen saß auch hier wieder der große gelbe Tiger, den Michael ihm zu seinem letzten Geburtstag gekauft hatte.
    In dem Jahr, als wir das Haus kauften, wäre Florian vierzehn Jahre alt geworden. Er hätte andere Sachen getragen als die, die in seinem Schrank hingen, er hätte mit anderen Spielsachen gespielt, er hätte andere Interessen gehabt als der neunjährige Junge, der er gewesen war, als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Aber in meiner Erinnerung wird er immer neun Jahre alt bleiben, ganz egal, wieviel Zeit vergeht. Zwei- oder dreimal habe ich Jonas getroffen, der in der Schule Florians bester Freund gewesen ist. Jonas ist inzwischen so groß wie ich, der erste Bartflaum wächst auf seiner Oberlippe, und er ist ein ernsthafter, zurückhaltender Junge geworden, der auf das Gymnasium geht und später einmal Physik studieren will. Er sagt, er kann sich noch gut an Florian erinnern, aber es ist eine gezwungen Erinnerung, eine Erinnerung, die ihm die Erwachsenen eingeredet haben, die nicht aus ihm heraus kommt.
    Michael und ich lebten nun in gegenseitigem Respekt und Höflichkeit nebeneinander her. Wir hatten längst getrennte Schlafzimmer und unser erotisches Interesse aneinander war auf Null gesunken. Ich für meinen Teil hatte keine besonderen sexuellen Bedürfnisse mehr. Falls Michael noch welche hatte, dann befriedigte er sie auf eine Weise, von der ich nichts wußte und auch nichts wissen wollte.
***
    Ich war froh, daß sich unser Leben wieder stabilisiert hatte. Ich dachte nie mehr an Nicolai. Wir wußten von Schirra, daß er seine Jahre im Maßregelvollzug in einer psychiatrischen Klinik in Berlin absaß, und wir dachten, da würde er nun bis zu seiner Entlassung bleiben und hoffentlich therapiert werden. Aber da täuschten wir uns. Nicolai kehrte in unser Leben zurück.
    Es begann alles damit, daß er im Gefängnis seine Verteidigerin heiratete. Kindermörder heiratet Staranwältin stand in den Saarbrücker Nachrichten, und dann brachte das Blatt eine lange, anrührende Geschichte, wie der Mörder und seine Anwältin sich während des Prozesses in Saarbrücken ineinander verliebt hätten und die Zitzelsberger in Berlin eine zweite Kanzlei eröffnet hatte, um immer in Nicolais Nähe zu sein. Bilder zeigten die Braut in Weiß und Nicolai im dunkelblauen Anzug im Innenhof der psychiatrischen Anstalt.
    Aber das war erst der Anfang. Nicolai hatte nämlich in der Haft nicht nur geheiratet, sondern sich auch noch als Dichter, Romanautor und Dramatiker etabliert. Ich hörte zum ersten Mal von dieser neuen Karriere, als das Theater am Schiffbauerdamm mit Nicolais Stück Kinderfleisch in Saarbrücken gastierte. Jean-Yves, mein Freund aus Studententagen, wies mich auf die Verse Beaudelaires hin, die Nicolai dem Stück vorangestellt hatte:
    Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants ,
    Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,
    - Et d’autres, corrompus, riches et triomphantes.
    Dunkel erinnerte

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