Die in der Hölle sind immer die anderen
ich mich an diese Zeilen, die ich bereits auf dem Gymnasium gelesen hatte: Düfte gibt es, die frisch wie das Fleisch von Kindern sind, süß tönen wie die Oboen und grün den Wiesen gleichen, und andere, verderbt, üppig und triumphierend.
Und diese Worte gaben nun das Motto für ein Einpersonenstück, in dem ein Schauspieler in einem atemlosen Monolog zwei Stunden lang davon erzählt, wie er ein Kind entführt, mißbraucht und dann erwürgt.
Ich hatte keine Kraft, in die Aufführung zu gehen. Die Tatsache, daß Nicolai nun als anerkannter Schriftsteller in unser Leben zurückgekehrt war, wühlte mich auf wie kein anderes Ereignis seit Florians Verschwinden. Mit meiner mühsam errungenen Ruhe war es mit einem Schlag vorbei. Reporter erinnerten sich an uns und läuteten an unserer Tür. Als Nicolai den Anton-Wildgans-Preis für Kinderfleisch erhielt, kehrte der Alptraum der ersten Monate nach Florians Verschwinden zurück. Kinderfleisch wurde in den nächsten Jahren von über hundert Theatern gespielt und war jahrelang das erfolgreichste Stück eines Nachwuchsautors auf deutschen Bühnen.
Ich habe Jahre gebraucht, bis ich mir das Stück ansehen konnte. Und was dann auf der Bühne vor sich ging, war schlimmer als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Das Stück selbst war keineswegs originell. Es ist ein Ein-Personen-Stück, in dem ein junger Mann von seiner Kindheit in der DDR, von den Schlägen seines Vaters, den Problemen im kapitalistischen Westen und seinem Versagen im Beruf erzählte. Das Ganze kulminiert in einem halbstündigen, unterbrechungslosen Monolog, in dem der Schauspieler, immer frenetischer, immer wilder, davon berichtet, wie er einen kleinen Jungen, der im Text Floh heißt, in seine Gewalt bringt, ihn prügelt, schlägt, quält, nackt auszieht, vergewaltigt und ihm endlich mit einem Messer die Kehle durchschneidet. In der Aufführung, die ich sah, wurde das Kind durch eine lebensgroße Puppe dargestellt. Am Ende schlug der Schauspieler die Puppe viele Male gegen die Wand, um ihr dann mit einem Messer den Kopf aus Schaumgummi abzuschneiden. Der Darsteller onanierte dabei symbolisch mit einem umgeschnallten Dildo, den er schließlich in den Mund des abgeschnittenen Puppenkopfs steckte. Dazu hörte man aus dem Lautsprecher Mama, du wirst doch nicht um deinen Jungen weinen von Heintje.
Nach Kinderfleisch veröffentlichte Nicolai einen Gedichtband, den er einem amerikanischen Serienmörder widmete, von dem ich noch nie gehört hatte. Dann erschien ein zweites Theaterstück mit dem Titel Menschenfresser , das von dem Kindermörder Jürgen Bartsch handelte. Endlich schrieb er eine Autobiographie mit dem Titel Mein schönes dreckiges Leben . Darin beschreibt er den Sex mit der Frau seines Chefs, eben desjenigen, der ihm noch im Gerichtssaal attestiert hatte, ein Mitarbeiter mit Zukunft zu sein, so:
Sie hatte die Regel, und um ihre Fotze hatte sich ein gelblicher Rand gebildet , der nach Emmentaler roch. Hier heißt es, nicht zimperlich sein. Ich steckte meine ganze Hand in diese Grotte hinein, die sich anfühlte wie eine Sahnetorte. Sie stank wie der Mist, aber sie war geil wie die Sau, und bald zuckten meine Schwanzstöße wie rasende Messerstiche in ihr Arschloch.
Mit solchen Texten avancierte Nicolai zum Darling der Literaturkritiker. Er war, mit einer Sondergenehmigung des Innenministers, Gast beim literarischen Stammtisch im Fernsehen, er frequentierte die Talk-Shows, wurde in Zeitungen und im Radio interviewt und schaffte es auf die Titelseite des Spiegels, der ihn zum deutschen Jack Unterweger erklärte und einen modernen Fallada nannte. Viele Kritiker waren völlig aus dem Häuschen und verglichen ihn mit Norman Mailer, William S. Burroughs und Peter Paul Zahl. Hier war endlich ein deutscher Dichter auf den Plan getreten, der gleichzeitig ein richtiger Krimineller war. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, die das Leben nur aus Büchern, Filmen und Germanistikseminaren kannten, hatte das Publikum es hier mit einem Schriftsteller zu tun, der einen echten Menschen wirklich umgebracht hatte. Der wußte also, wovon er redete und schrieb.
Nicolais Popularität erreichte ihren Höhepunkt, als der Feuilletonchef einer großen Wochenzeitung dazu aufrief, den großen Dichter Falko Nicolai endlich aus der Psychiatrie zu entlassen. Was hier geschieht , schrieb dieser Mann, erinnert an die schlimmsten Zustände in den psychiatrischen Kliniken der Sowjetunion . Die hätten auch nur dazu gedient, unliebsame
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