Die Insel der Albträume und andere unbedingt geheim zu haltende Dinge
herzzerreißende Geschichte des Nachtmahrs John, seines Vaters.
John war als Nachtmahr überall auf der Welt unterwegs gewesen. Im undurchdringlichen Dschungel Südamerikas, auf den Gipfeln des Himalaja und an den Küsten Asiens. Jeden Tag hatte er sich pflichtbewusst auf den Weg gemacht, im Sommer bei größter Hitze, im Winter bei Eis und Schnee. Nie hatte er sich beschwert. Nie hatte er sein Tun infrage gestellt.
In einer stürmischen Herbstnacht war er auftragsgemäß in der fernen Stadt Nischni Nowgorod 18 durch das Fenster in das Schlafzimmer einer jungen russischen Kirschkernschnitzerin gestiegen. Doch kaum hatte John einen Blick auf die Schlafende geworfen, war es um ihn geschehen. Die Kirschkernschnitzerin war so schön gewesen wie die Wimpern eines Trampeltieres und so anmutig wie der Flug einer Libelle.
Sofort hatte Leschnikovs Vater alles vergessen: seine Aufgabe, sein Ziel, seinen Zweck. Und während draußen der Bär, der das Luftschiff steuerte, langsam ungeduldig wurde, hatte John regungslos bei der Schlafenden gesessen, sie angeschaut und sich dabei unsterblich verliebt. Als die Kirschkernschnitzerin am nächsten Morgen erwachte, regnete es Rosen. Natürlich nicht in echt, sondern nur sprichwörtlich, denn die junge Frau verliebte sich ebenfalls unsterblich in den Nachtmahr. Und während der Bär durch das Fenster kletterte, um nach dem Nachtmahr zu suchen, nahm John die junge Frau an der Hand und verließ das Haus durch den Hinterausgang. Die zwei waren entschlossen, das Leben gemeinsam zu verbringen, und zogen in die wilde, weite Welt.
„Und?“, fragte Rocky interessiert, „Was ist aus ihnen geworden?“
„Zunächst lebten sie glücklich und zufrieden. Doch eines Abends kehrte die Kirschkernschnitzerin zurück und fand eine leere Hütte vor. John war spurlos verschwunden.“
„Wo war er?“, wollte Rocky wissen.
Leschnikov schwieg eine Weile. Dann erzählte er, dass man auf der Insel diese Liebe nicht zulassen wollte. Man informierte das Amt 19 und schickte einen Suchtrupp los, der John schließlich fand und ihn zurückbrachte.
„Und die Kirschkernschnitzerin?“, wollte Rocky wissen. Leschnikov zuckte mit den Achseln. John hatte sie nie wiedergesehen. Nach einer gewichtigen Pause nannte er ihren Namen: Katjuscha Leschnikova.
„Leschnikova!“, rief Rocky. „Sie ist deine Mutter! Ein Mensch! Und du …“
„Mich hat man gemeinsam mit meinem Vater auf die Insel zurückgeholt. Ich bin hier aufgewachsen, aber war keine Sekunde glücklich.“
Leschnikov erzählte, dass er es nicht leicht gehabt hatte. Er wurde in der Schule geärgert und auf dem Spielplatz verprügelt. Man hatte ihn nie wirklich akzeptiert. Und das nur, weil seine Mutter ein Mensch war. Jetzt endlich verstand Rocky auch, warum Leschnikov anders aussah als die anderen. Warum er so griesgrämig war. Und warum er unbedingt wegwollte!
„Ich muss meine Mutter finden, verstehst du? Ich habe schon mal probiert, von hier wegzukommen, aber Mopsen hat mich erwischt.“ Dann wandte er sich zu Rocky. „Ich denke, ich brauche dich. Gemeinsam können wir vielleicht von hier abhauen!“
Rocky nickte.
„Ich bin dabei!“
18 Die russische Stadt Nischni Nowgorod wurde von dem Großfürsten Juri Wsewolodowitsch im Jahr 1221 am Zusammenfluss der Flüsse Wolga und Oka gegründet. Wie man den Namen Wsewolodowitsch richtig ausspricht, ist nur wenigen Menschen bekannt.
19 Mutmaßlich bezieht sich Leschnikov auf das „Amt für die Verwaltung der Angst“. Dieses ist angesiedelt in Antananarivo, Madagaskar, und wird – laut Webseite – von Hochkommissar Oscar Méténier geleitet. Was genau das Amt macht, ist nicht bekannt.
13. Der Sprung in die Höllengurglerschlucht erster Teil
Als die beiden nach Hause zurückkehrten, schlief Conan tief und fest. Leschnikov öffnete leise den Schrank, holte den Rollkoffer heraus, kramte darin nach dem Buch von Dr. Heinrich Hahn und legte es auf den Tisch.
„Das kennst du ja schon“, stellte er fest. Conan hatte also doch verraten, dass er Rocky damit erwischt hatte. Er wurde rot, aber den Nachtmahr schien das nicht zu interessieren.
Leschnikov schlug es auf und blätterte. „Was du aber wahrscheinlich noch nicht gelesen hast, ist das hier.“ Er reichte Rocky das dicke Buch.
FORSCHUNGSTAGEBUCH 3. TEIL
Von Doktor Heinrich Hahn.
Entdecker, Forscher, Abenteurer.
Träger des Orchideenordens der Königlich Indischen
Gesellschaft für Tigerreiten.
13. Juni, 16 Uhr. Endlich! Nach
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