Die Insel der besonderen Kinder
»Ich habe dir dein Abendessen aufgehoben.«
»Ich hab keinen Hunger«, erwiderte ich und erzählte ihm, was ich über Grandpa Portman erfahren hatte.
Er wirkte eher wütend als überrascht. »Ich kann nicht glauben, dass er das nie erzählt hat«, sagte er. »Nicht ein einziges Mal.« Ich konnte seinen Ärger verstehen. Etwas vor seinem Enkelkind geheim zu halten war eine Sache, etwas dem Sohn gegenüber zu verschweigen – und auch noch über so lange Zeit – eine andere.
Ich versuchte, das Gespräch in eine positivere Richtung zu lenken. »Es ist erstaunlich, nicht wahr? Was er alles durchgemacht hat, meine ich.«
Mein Vater nickte. »Vermutlich werden wir nie das ganze Ausmaß erfahren.«
»Grandpa Portman wusste, wie man Geheimnisse hütet.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Dieser Mann war ein emotionales Fort Knox!«
»Trotzdem erklärt es vielleicht, warum er dir gegenüber so distanziert war, als du klein warst.« Dad warf mir einen warnenden Blick zu. Ich musste ihn schnell von meiner Theorie überzeugen, oder ich lief Gefahr, den Bogen zu überspannen. »Er hatte schon zweimal seine Familie verloren. Erst in Polen und dann hier – seine Pflegefamilie. Und als du und Tante Suzie dann geboren wurdet …«
»Gebranntes Kind scheut das Feuer?«
»Ich meine es ernst. Vielleicht hat er Großmutter doch gar nicht betrogen?«
»Ich weiß es nicht, Jake. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass es so einfach gewesen sein soll.« Er seufzte, und sein Atem ließ das Bierglas von innen beschlagen. »Aber eines erklärt es schon. Ich verstehe jetzt, warum du und Grandpa euch so nahestandet.«
»Wieso?«
»Er brauchte fünfzig Jahre, um wieder angstfrei damit umgehen zu können, eine Familie zu haben. Du kamst genau zum richtigen Zeitpunkt.«
Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte. Wie sagt man seinem eigenen Vater:
Es tut mir leid, dass dein Dad dich nicht genug geliebt hat?
Ich konnte es nicht. Also wünschte ich ihm nur eine gute Nacht und ging nach oben ins Bett.
* * *
Den größten Teil der Nacht warf ich mich unruhig hin und her. Ich musste immerzu an die Briefe denken – an den, den Dad und Tante Suzie als Kinder fanden, den von dieser »anderen Frau«, und an den von Miss Peregrine, der mir vor einem Monat in die Hände gefallen war. Ein Gedanke ließ mich nicht schlafen:
Und wenn es sich dabei um dieselbe Frau handelte?
Der Poststempel auf dem Brief von Miss Peregrine war fünfzehn Jahre alt. Aber allem Anschein nach war sie bereits 1940 in die Stratosphäre geschossen worden. Meines Erachtens blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder korrespondierte mein Großvater mit einer Toten – was zugegebenermaßen ziemlich unwahrscheinlich war –, oder jemand anderes hatte den Brief geschrieben und Miss Peregrines Identität benutzt, um die eigene nicht preiszugeben.
Warum sollte jemand seine wahre Identität in diesem Brief vertuschen? Weil die Person etwas zu verbergen hatte und möglicherweise die »andere Frau« war.
Bestand meine einzige Entdeckung auf dieser Reise etwa darin, dass mein Großvater ein verlogener Ehebrecher gewesen war? Wollte er mir mit seinen letzten Atemzügen vom Tode seiner Pflegefamilie erzählen – oder eine geschmacklose, jahrzehntelange Affäre eingestehen? Vielleicht beides, und vielleicht bestand die dramatische Erkenntnis darin, dass er nicht mehr wusste, wie es war, eine Familie zu haben – oder einer Familie treu zu sein –, weil er bereits als junger Mann solch große Verluste erlitten hatte.
Natürlich waren das alles nur Vermutungen. Ich wusste es nicht, und es gab auch niemanden, den ich fragen konnte. Jeder, der mir eine Antwort hätte geben können, war längst tot. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sich diese Reise als sinnlos erwiesen.
In fiel in einen unruhigen Schlaf. Als es dämmerte, wurde ich von einem Geräusch in meinem Zimmer geweckt. Ich wälzte mich herum, um zu sehen, woher es kam – und setzte mich abrupt kerzengerade auf. Ein riesiger Vogel hockte auf meiner Kommode und fixierte mich mit seinen dunklen Augen. Er hatte einen seidig glänzenden, grau gefiederten Kopf, und als er längs der Kante hin- und hertänzelte, klackerten seine Krallen auf dem Holz. Es wirkte beinahe, als er suche er die Stelle, von der aus er mich am besten sehen konnte. Ich starrte ihn an und fragte mich, ob ich das träumte.
Ich rief nach Dad. Beim Geräusch meiner Stimme stieß sich der Vogel von der Kommode ab. Ich schlug
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