Die Insel der besonderen Kinder
die Hände vors Gesicht und drehte mich weg. Als ich wieder einen Blick riskierte, war der Vogel verschwunden, durchs offene Fenster davongeflogen.
Dad kam verschlafen ins Zimmer gestolpert. »Was ist los?«
Ich zeigte ihm die Abdrücke der Krallen auf der Kommode und die Feder, die zu Boden gefallen war. »Nun, das ist merkwürdig«, sagte er und drehte die Feder in der Hand hin und her. »Normalerweise kommt ein Peregrinus nicht so nahe an Menschen heran.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Sagtest du Peregrinus?«
Er hielt die Feder hoch. »Falco peregrinus – ein Wanderfalke«, sagte er. »Beeindruckende Kreaturen, die schnellsten Vögel der Welt. Sie wirken wie Gestaltwandler, so, wie sie ihren Körper in der Luft in Stromlinienform bringen.« Das mit dem Namen konnte natürlich nur Zufall sein, aber es ließ mich mit einem unbehaglichen Gefühl zurück, das ich nicht abschütteln konnte.
Beim Frühstück fragte ich mich, ob ich zu schnell aufgegeben hatte. Zwar war niemand mehr am Leben, mit dem ich über Großvater reden konnte, aber das Haus stand schließlich noch da. Falls es dort jemals Informationen zu meinem Großvater gegeben hatte, in Form von Briefen, eines Fotoalbums oder eines Tagebuchs, dann waren sie sicher verbrannt oder im Laufe der Zeit verrottet. Doch wenn ich diese Insel verließ, ohne mich davon überzeugt zu haben, würde ich es auf ewig bedauern.
Und so kam es, dass jemand, der sehr anfällig ist für Alpträume, Nachtangst, Untote und eingebildete Wesen, sich dazu überredete, ein letztes Mal ein verlassenes Geisterhaus aufzusuchen, in dem mehr als ein Dutzend Kinder ihr frühes Ende fanden.
[home]
5. Kapitel
E s war ein fast zu perfekter Morgen. Als ich aus dem Pub trat, kam ich mir vor, als hätte ich eines dieser retuschierten Fotos vor mir, die als Bildschirmschoner auf Computern installiert sind: Straßen mit dem maroden Charme baufälliger Häuser erstreckten sich in die Ferne, gingen über in grüne Felder, durch die sich Steinmauern schlängelten. Malerisch gekrönt wurde das Ganze durch rasch vorbeiziehende Wolken. Aber hinter all dem, hinter den Häusern und Feldern und Schafen, die sich wie kleine Knäuel Zuckerwatte über die Weiden bewegten, sah ich den dichten Nebel. Wie eine gierige Zunge leckte er über den Bergkamm, dort, wo diese Welt endete und die nächste begann, kalt, klamm und trübe.
Ich marschierte über die Anhöhe und geriet mitten in einen Regenschauer. Die Gummistiefel hatte ich natürlich vergessen. Und der Pfad verwandelte sich in rasendem Tempo in eine tiefe Schlammfurche. Aber ein bisschen nass zu werden, schien mir das kleinere Übel zu sein. Immer noch besser, als den Weg an einem Tag zweimal zurückzulegen. Also senkte ich den Kopf gegen den Sprühregen und kämpfte mich voran. Schon bald kam ich an der Hütte vorbei, sah schemenhaft die Umrisse der Schafe, die sich gegen die Kälte zusammendrängten. Ich passierte das nebelverhangene Moor, das still und gespenstisch zu lauern schien. Ich dachte an den 2700 Jahre alten Bewohner von Cairnholms Museum. Wie viele wohl noch hier schlummerten, unentdeckt, gefangen im Tod? Wie viele mochten hier ihr Leben gelassen haben, auf der Suche nach dem Himmel?
Als ich beim Kinderheim eintraf, hatte sich der Sprühregen in einen ausgewachsenen Schauer verwandelt. Mir blieb keine Zeit, um auf dem verwilderten Hof herumzutrödeln und über seinen schrecklichen Zustand nachzudenken – oder über die Art und Weise, wie mich der türlose Eingang begierig schluckte, wie die vom Regenwasser aufgeschwemmten Bodendielen unter meinen Schuhen nachgaben. Ich wrang das Wasser aus meinem Hemd und schüttelte es mir aus dem Haar. Nachdem ich zumindest nicht mehr tropfte, begann ich mit der Suche. Aber wonach eigentlich? Nach einer Schachtel mit Briefen? Dem Namen meines Großvaters an einer Wand? Alles erschien mir gleichermaßen unwahrscheinlich.
Ich schaute Stapel alter Zeitungen durch und spähte unter Tische und Stühle. Die ganze Zeit hatte ich Angst, auf irgendeine Horrorszene zu stoßen – ein wirres Knäuel aus Skeletten in von Feuer versengten Lumpen. Aber alles, was ich fand, waren Zimmer, die mehr zu einem Außen als zu einem Innen geworden waren, unkenntlich gemacht durch Feuchtigkeit, Wind und Schmutzschichten. Das Erdgeschoss gab überhaupt nichts her. Ich ging zu der Treppe. Dieses Mal musste ich sie benutzen. Die Frage war nur, rauf oder runter? Gegen oben sprach, dass mir dann kaum eine
Weitere Kostenlose Bücher