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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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freiwilligen Aufpasser, die von Haus zu Haus liefen, um nachzusehen, ob alles abgedunkelt war und sämtliche Straßenlampen gelöscht waren, damit die Angreifer kein leichtes Ziel fanden. Man bereitete sich so gut wie möglich vor, ohne ernsthaft zu glauben, je beschossen zu werden. Schließlich gab es auf dem Festland Häfen und Fabriken, wichtigere Ziele als Cairnholms kleine Geschützstellung. Aber eines Nachts fielen die Bomben.
    »Der Lärm war furchtbar«, erzählte Oggie. »Als würden Riesen über die Insel stampfen, und es schien gar nicht mehr aufzuhören. Die haben uns vielleicht eine Ladung verpasst! Gott sei Dank ist im Ort niemand umgekommen. Leider kann ich das nicht von den Jungs an den Geschützen sagen – sie haben ihr Bestes gegeben – und von den armen Seelen im Waisenhaus. Eine Bombe hat genügt. Haben ihr Leben für Großbritannien gelassen. Wo auch immer sie also herkamen, Gott segne sie dafür.«
    »Wissen Sie noch, wann es passierte?«, fragte ich. »Zu Anfang des Krieges oder eher später?«
    »Ich kann dir sogar den genauen Tag nennen«, antwortete er. »Es war der 3 . September 1940 .«
    Jegliche Luft schien aus dem Raum verschwunden. Ich sah Großvaters aschgraues Gesicht vor mir, seine Lippen, die sich kaum sichtbar bewegten und ebenjene Worte hervorstießen:
3. September 1940.
    »Sind Sie da ganz sicher? Was das Datum angeht, meine ich?«
    »Ich wurde nie eingezogen«, sagte er. »War ein Jahr zu jung. Diese eine Nacht war mein ganzer Krieg. Und ob ich sicher bin!«
    Ich fühlte mich wie betäubt. Spielte mir da jemand einen Streich? Einen sonderbaren, überhaupt nicht lustigen Streich?
    »Und es gab keinen einzigen Überlebenden?«, fragte Martin.
    Der alte Mann überlegte und ließ dabei den Blick an die Decke schweifen. »Jetzt, wo du es erwähnst«, sagte er, »erinnere ich mich wieder. Es gab einen. Ein Junge, nicht viel älter als dieser Knabe hier.« Er hörte auf zu schaukeln. »Kam am nächsten Morgen in den Ort marschiert und hatte nicht einen Kratzer abbekommen. Er wirkte kein bisschen verstört, obwohl er gerade erst mit angesehen hatte, wie seine Kumpel umkamen. Sehr seltsam.«
    »Er stand vermutlich unter Schock«, sagte Martin.
    »Das würde mich nicht wundern«, versicherte Oggie. »Er sprach nur ein einziges Mal, um meinen Vater zu fragen, wann das nächste Boot in Richtung Festland ging. Sagte, er wolle sich Waffen besorgen, um die verdammten Monster zu töten, die seine Leute ermordet hatten.«
    Oggies Geschichte klang genauso weit hergeholt wie die von Grandpa Portman, dennoch hatte ich keinen Grund, sie zu bezweifeln.
    »Ich kenne ihn«, sagte ich. »Er war mein Großvater.«
    Die beiden sahen mich überrascht an. »Na, so was«, sagte Oggie.
    Ich entschuldigte mich und stand auf. Martin meinte, dass ich aussähe, als sei ich nicht ganz auf dem Damm, und bot an, mich zum Pub zu begleiten. Ich lehnte ab. Ich musste jetzt mit meinen Gedanken allein sein. »Dann besuch mich aber bald wieder«, sagte er, und ich versprach es.
    Ich machte einen Umweg, vorbei an den schwankenden Lichtern im Hafen. Die Luft war schwer vom Salz und dem Schornsteinrauch der vielen Herdfeuer. Bis ans Ende des Docks ging ich und sah, wie der Mond über dem Wasser aufstieg. Ich stellte mir Großvater vor, wie er an jenem schrecklichen Morgen hier gestanden haben musste, betäubt vom Schock, auf ein Boot wartend, das ihn fortbrachte, von all dem Sterben, das er mit angesehen hatte. Man konnte den Monstern nicht entkommen, nicht einmal auf dieser Insel, die auf der Landkarte nicht größer war als ein Sandkorn, geschützt von Nebelschleiern, spitzen Felsen und wogenden Gezeiten. Nirgendwo. Das war die schreckliche Wahrheit, vor der Großvater mich hatte schützen wollen.
    In der Ferne hörte ich die Generatoren stottern und dann verstummen. Sämtliche Lichter längs des Hafens und in den Fenstern der Häuser hinter mir flackerten noch einmal auf, bevor sie erloschen. Ich fragte mich, wie das vom Flugzeug aus wirken mochte – die ganze Insel wie auf Knopfdruck ausgelöscht, als hätte sie nie existiert. Eine Supernova in Miniausführung.
    * * *
    Im Mondlicht ging ich zurück und fühlte mich klein. Ich fand meinen Dad im Pub, immer noch an demselben Tisch. Vor ihm stand ein halb leergegessener Teller mit Fleisch und Bratensoße, die dabei war, zu Fett zu erstarren. Daneben ein zweiter Teller, der noch voll beladen war. »Schau an, da bist du ja wieder«, sagte er, während ich mich setzte.

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