Die Insel der besonderen Kinder
preiszugeben, dann wollte ich wenigstens meine Nase in diesen alten Koffer stecken. In dem Moment rutschte die Stange weg, und ich knallte so heftig auf den Boden, dass mir die Luft wegblieb.
Da lag ich nun, starrte an die Decke und japste. Draußen war es vorbei mit den Tränen der Waisenkinder. Es schüttete guten alten Regen. Ich dachte darüber nach, zurück ins Dorf zu gehen, um einen Hammer oder eine Metallsäge zu holen – aber das hätte nur Fragen nach sich gezogen, die ich nicht beantworten mochte.
Und dann kam mir eine brillante Idee. Wenn ich einen Weg fand, den
Koffer
aufzubrechen, brauchte ich mir über das Schloss keine Gedanken mehr zu machen. Und welche Kraft war wohl stärker als meine zugegebenermaßen unterentwickelten Oberarmmuskeln, die sich mit zufällig gefundenen Werkzeugen an dem Koffer abmühten? Schwerkraft! Schließlich befand ich mich im ersten Stock des Hauses. Zwar sah ich keine Möglichkeit, den Koffer so hochzuheben, dass ich ihn durchs Fenster schieben konnte, aber das Geländer oben am Treppenabsatz war eingestürzt. Ich brauchte also nicht mehr zu tun, als den Koffer den Flur entlangzuschleifen und ihn dann die Treppe hinunterzustoßen. Ob sein Inhalt den Sturz überlebte, war ein anderes Thema – aber zumindest würde ich herausfinden, was sich darin befand. Ich ging hinter dem Koffer in die Hocke und begann, ihn in Richtung Flur zu schieben. Nach ein paar Zentimetern gruben sich seine Metallfüße in das weiche Holz des Bodens, und er bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Unbeirrt ging ich auf die andere Seite, packte das Schloss mit beiden Händen und zog. Zu meiner großen Überraschung rutschte er einen ganzen Meter weit, begleitet von dem ohrenbetäubenden Quietschen von Metall auf Holz. Schon bald hatte ich ihn aus dem Zimmer hinausbefördert und bugsierte ihn Stück für Stück, Tür für Tür in Richtung Treppenabsatz. Ich verlor mich im Rhythmus meiner Anstrengung, schwitzte wie ein Mann.
Schließlich hatte ich es bis zum Treppenabsatz geschafft. Mit einem letzten unfeinen Grunzen zog ich den Koffer heran. Er rutschte jetzt ganz leicht, und nach ein paar Stößen wippte er gefährlich auf der Kante. Ein Schubs würde genügen, um ihn hinunterzustürzen. Aber ich wollte sehen, wie er zerbrach, das war der Lohn für meine Arbeit. Also schob ich mich vorsichtig an den Rand heran, bis ich den Boden im Erdgeschoss unter mir erkennen konnte. Dann hielt ich den Atem an und versetzte dem Koffer einen leichten Tritt.
Einen Moment lang wippte er gefährlich auf der Kante des Todes, kippte dann nach vorn und fiel, überschlug sich in graziösen, langsamen Drehungen. Ein fürchterliches Krachen hallte durch das Haus, und eine Staubwolke stieg zu mir herauf. Ich legte die Hände schützend vor mein Gesicht und wich ein paar Schritte zurück, bis sich der Staub gelegt hatte. Dann lief ich zurück zum Treppenabsatz und spähte hinunter. Ich sah jedoch keinen Koffer in Einzelteilen, wie ich gehofft hatte, sondern ein Loch in den Bodendielen. Der Koffer war bis in den Keller gestürzt.
Ich rannte die Stufen hinunter und rutschte auf dem Bauch bis zur Kante des Lochs, als befände ich mich auf dünnem Eis. Knapp fünf Meter unter mir sah ich in Staub und Dunkelheit, was von dem Koffer übrig geblieben war. Er war zerbrochen wie ein riesiges Ei, die Teile vermischt mit einem Haufen Schutt und zersplitterten Bodendielen. Dazwischen entdeckte ich Papierfetzen. Sollte ich am Ende doch noch aufschlussreiche Briefe gefunden haben? Als ich jedoch die Augen leicht zusammenkniff, konnte ich Umrisse auf den Papieren erkennen – Gesichter, Körper. Das waren keine Briefe, sondern Fotos! Dutzende von Fotos! Ich wurde ganz aufgeregt – aber schon im nächsten Moment legte sich meine Begeisterung wieder, weil mir etwas Entsetzliches klar wurde.
Ich musste da runtergehen.
* * *
Im Keller war es so dunkel, dass ich mich genauso gut mit verbundenen Augen hätte vorantasten können. Nachdem ich die knarrende Treppe hinabgestiegen war, blieb ich einen Moment lang stehen und hoffte, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden – und an den Geruch. Es war ein sonderbarer, strenger Gestank wie im Vorratsschrank des Chemieraums in der Schule. Meine Hoffnung wurde jedoch nicht erfüllt. Ich zog den Hemdkragen bis über die Nase, ging mit ausgestrecktem Arm vorsichtig los und hoffte das Beste.
Gleich darauf stolperte ich und wäre beinahe hingefallen. Irgendetwas aus Glas rollte
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