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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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keine Kontrolle über meine Kiefer, stand nur da und starrte.

    Das Mädchen verzog das Gesicht. Ich musste fürchterlich aussehen. Durchnässt vom Regen und verdreckt stand ich in diesem Schutthaufen. Was auch immer das Mädchen und die anderen Kinder in diesem Loch zu finden gehofft hatten, ich war es nicht.
    Ein Raunen ertönte, dann standen sie auf und liefen davon. Das löste etwas in mir. Ich fand meine Stimme wieder und rief ihnen nach, sie sollten warten, aber sie stampften bereits über die Dielenbretter in Richtung Tür. Ich stolperte blindlings durch den stinkenden Keller in Richtung Treppe. Als ich endlich oben ankam, waren die Kinder längst aus dem Haus verschwunden. Ich stürzte nach draußen, die kaputten Steinstufen hinab in das hohe Gras, und schrie: »Wartet! Bleibt stehen!« Aber sie waren fort. Ich suchte im Garten, im Wald, keuchend und mich selbst verfluchend.
    Irgendetwas knackte hinter den Bäumen. Ich wirbelte herum und erspähte durch ein Gewirr von Zweigen eine verschwommene Bewegung – den Saum eines weißen Kleides. Das war sie. Ich eilte ihr nach. Sie lief den Pfad hinunter.
    Ich sprang über umgestürzte Baumstämme, duckte mich unter niedrigen Ästen hindurch, rannte, bis mir die Lunge schmerzte. Sie versuchte mich abzuschütteln, wechselte immer wieder vom Weg in den dichten Wald und zurück auf den Pfad. Schließlich endete der Wald und ging über in das offene Moor. Das war meine Chance. Jetzt konnte sie sich nirgendwo verstecken. Um sie einzuholen, musste ich nur schneller laufen. In dem langen Kleid war sie gegen mich in Jeans und Turnschuhen im Nachteil. Aber als ich ihr langsam näher kam, bog sie plötzlich ab und lief direkt in das Moor hinein. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
    Rennen war jetzt unmöglich. Man konnte dem Boden nicht trauen. Er gab nach. Ich stolperte in knietiefe Löcher, die meine Hose durchnässten und an meinen Beinen zogen. Das Mädchen schien genau zu wissen, wo es hintreten durfte. Ihre Gestalt entfernte sich immer mehr, bis sie schließlich im Nebel verschwunden war und ich nur noch ihren Fußabdrücken folgen konnte. Nachdem sie mich abgehängt hatte, erwartete ich eigentlich, dass sie zum Pfad zurückkehren würde, aber sie lief immer tiefer in das Moor hinein. Dann schloss sich der Nebel hinter mir, und ich konnte den Pfad nicht mehr sehen. Ob ich jemals wieder aus dem Moor hinausfinden würde? Ich rief nach dem Mädchen.
Mein Name ist Jacob Portman! Ich bin Abes Enkel! Ich will dir nichts tun!
Aber der Nebel und das Moor schienen meine Worte zu schlucken.
    Ihre Fußabdrücke führten zu einem Steinhaufen. Er sah aus wie ein großes, graues Iglu und war ein sogenannter Cairn, eines dieser jungsteinzeitlichen Gräber, nach denen Cairnholm benannt ist.
    Der Steinhaufen ging mir ungefähr bis zur Schulter, er war lang und schmal, mit einer rechtwinkligen Öffnung an einem Ende, wie eine Tür, die sich über einem Grasbüschel aus dem Morast erhob. Als ich auf den relativ festen Untergrund trat, sah ich, dass es der Eingang zu einem Tunnel war. Spiralen und Kreise waren in die Wände geritzt, uralte Hieroglyphen, deren Bedeutung nach den vielen Jahrhunderten längst niemand mehr kannte. Vermutlich stand dort so etwas wie:
Hier ruht der Moorjunge.
Oder:
Gebt die Hoffnung auf, alle, die ihr hier eintretet.
    Ich duckte mich und ging trotzdem hinein, weil die Fußabdrücke des Mädchens hineinführten. In dem Tunnel war es feucht, eng und dunkel. Ich konnte mich nur gebeugt vorwärtsbewegen. Zum Glück gehören enge Räume nicht zu den Dingen, bei denen ich Panik bekomme.
    Das Mädchen musste irgendwo weiter vorn sein, zitternd und verängstigt. Ich gab mein Bestes, um sie zu beruhigen, versicherte immer wieder, dass ich ihr nichts tun wolle. Aber meine Worte hallten als verwirrendes Echo zu mir zurück. Als mir von der krummen Haltung bereits die Schenkel schmerzten, öffnete sich der Tunnel zu einem Raum. Er war stockdunkel, aber groß genug, dass ich stehen und meine Arme ausstrecken konnte, ohne die Wände zu berühren.
    Ich holte mein Handy heraus und benutzte es noch einmal als provisorische Taschenlampe. Es dauerte nicht lange, den Raum abzuchecken. Er war etwa so groß wie mein Kinderzimmer, mit nackten Steinwänden – und völlig leer. Das Mädchen war nicht da.
    Wie war es ihr nur gelungen, an mir vorbeizuschlüpfen? Da ging mir plötzlich etwas auf – etwas so Offensichtliches, dass ich mir dumm vorkam, es nicht längst

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