Die Insel der besonderen Kinder
Therapiesitzungen – auch für die wahrscheinlichste hielt. Damit mir nicht die Tränen kamen, nannte ich ihr nur die groben Fakten: Er lebte am Stadtrand nahe den Wäldern; wir hatten eine Dürre hinter uns, und die Wälder waren voll von ausgehungerten Tieren; er war zur falschen Zeit am falschen Ort. »Er hätte nicht allein leben dürfen«, erklärte ich, »aber wie Sie schon sagten: Er war stur.«
»Ich habe es befürchtet«, sagte sie. »Und ich habe ihn davor gewarnt, uns zu verlassen.« Sie ballte die Fäuste um die Stricknadeln auf ihrem Schoß, als wolle sie damit jemanden erstechen. »Und uns die schreckliche Nachricht von seinem armen Enkelsohn überbringen zu lassen.«
Ich konnte ihren Ärger verstehen. Schließlich hatte ich das selbst durchgemacht. Ich versuchte, sie zu trösten, indem ich all die beruhigenden Halbwahrheiten aufsagte, die meine Eltern und Dr. Golan während meiner düstersten Momente abgespult hatten: »Es war Zeit für ihn, zu gehen. Er war einsam. Meine Großmutter war schon viele Jahre tot, und er war auch nicht mehr klar bei Verstand. Ständig hat er irgendetwas vergessen oder verwechselt. Deshalb war er überhaupt nur in den Wald gegangen.«
Miss Peregrine nickte traurig. »Er ließ zu, dass er alt wurde.«
»In gewisser Weise hat er sogar Glück gehabt. Sein Sterben wurde nicht unnötig in die Länge gezogen. Kein monatelanges Dahinsiechen im Krankenhaus, angeschlossen an Maschinen.« Das war natürlich albern – sein Tod war unnötig und ekelerregend gewesen –, aber durch das Schönreden fühlten wir uns beide ein wenig besser.
Miss Peregrine legte ihre Handarbeit zur Seite, stand auf und humpelte ans Fenster. Ihr Gang war steif und sonderbar, so als wäre eines ihrer Beine kürzer als das andere. Sie sah hinaus in den Hof, wo die Kinder spielten. »Die Kinder brauchen das nicht zu erfahren«, sagte sie. »Zumindest noch nicht. Es würde sie nur aufregen.«
»Wie Sie meinen.«
Eine Weile stand sie schweigend am Fenster. Ihre Schultern zitterten. Als sie sich mir wieder zuwandte, wirkte sie jedoch gefasst und energisch. »Nun, Master Portman«, sagte sie betont lebhaft. »Ich denke, du wurdest hinreichend befragt. Du musst selbst einige Fragen haben.«
»Nur ein paar tausend.«
Sie zog eine Uhr aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Wir haben noch ein bisschen Zeit bis zum Abendessen. Ich hoffe, das wird reichen.«
Dann schwieg sie und neigte den Kopf zur Seite. Unvermittelt schritt sie zur Esszimmertür und riss sie auf. Dahinter kauerte Emma, mit rotem, verweintem Gesicht. Sie hatte alles mit angehört.
»Miss Bloom! Hast du etwa gelauscht?«
Emma rappelte sich auf und schluchzte.
»Höfliche Menschen hören nicht bei Gesprächen zu, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind –« Aber Emma lief fort, und Miss Peregrine brach seufzend mitten im Satz ab. »Das ist höchst bedauerlich. Emma ist leider sehr empfindlich, wenn es um deinen Großvater geht.«
»Das ist mir schon aufgefallen«, sagte ich. »Aber warum? Waren die beiden …?«
»Als Abraham von hier fortging, um im Krieg zu kämpfen, hat er unser aller Herzen mitgenommen, aber besonders das von Emma. Ja, die beiden haben füreinander geschwärmt, einander verehrt.«
Ich begann zu verstehen, warum sich Emma so gesträubt hatte, mir zu glauben. Sie hatte Angst gehabt, dass ich schlechte Nachrichten von meinem Großvater bringen würde.
Miss Peregrine klatschte in die Hände, als würde sie einen Bann brechen wollen. »Aber gut«, sagte sie, »es ist nicht zu ändern.«
Ich folgte ihr aus dem Zimmer und bis zur Treppe. Mit grimmiger Entschlossenheit stieg Miss Peregrine nach oben. Sie hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, zog sich Stufe für Stufe hinauf und lehnte jede Hilfe ab. Im ersten Stock führte sie mich den Flur entlang zur Bibliothek. Die sah jetzt aus wie ein richtiger Klassenraum. Die Tische waren in einer Reihe arrangiert, und in der Ecke stand eine Tafel. Die Bücher standen abgestaubt und ordentlich in den Regalen. Miss Peregrine zeigte auf einen Tisch und sagte: »Setz dich.« Ich zwängte mich auf den Stuhl, während sie vorn Platz nahm und mich ansah.
»Gestatte mir eine kurze Einführung. Ich denke, das wird die meisten deiner Fragen beantworten.«
»Okay.«
»Die menschliche Spezies ist weitaus vielfältiger, als die Menschen annehmen«, begann sie. »Die wahre biologische Struktur des Homo sapiens ist ein Geheimnis, das nur wenigen bekannt ist und von
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