Die Insel der besonderen Kinder
für gefährlich zu halten, dennoch fesselte sie mir die Hände, bevor wir hineingingen – vermutlich wollte sie Eindruck schinden. Sie spielte die heimkehrende Jägerin, und ich war der gefangene Spion. Doch Millard hielt sie zurück.
»Seine Schuhe sind voller Matsch«, sagte er. »Wir können nicht zulassen, dass er den ganzen Dreck reinschleppt. Dann bekommt der Vogel einen Anfall.« Während meine Geiselnehmer warteten, zog ich erst die Schuhe und anschließend auch noch die Socken aus, die ebenfalls voller Schlamm waren. Millard meinte, ich solle auch die Beine der Jeans hochkrempeln, damit sie nicht über den Teppich schleifen konnten. Auch dem kam ich nach. Schließlich packte Emma mich ungeduldig und zerrte mich durch die Tür.
Wir gingen durch einen Flur, der in meiner Erinnerung mit kaputten Möbeln vollgestopft war, an der Treppe vorbei, die nun auf Hochglanz poliert war und durch deren Geländer mich neugierige Blicke verfolgten, und durchquerten das Esszimmer. Der wie Schnee herabgerieselte Gips war verschwunden. Stattdessen stand dort ein langer Holztisch, umgeben von Stühlen. Es war dasselbe Haus, durch das ich gestreift war, aber alles war in bester Ordnung. Wo ich grünen Schimmel an den Wänden gesehen hatte, erstrahlten jetzt Tapeten, Täfelungen und Anstriche in freundlichen Farben. Blumen waren in Vasen arrangiert. Morsches Holz und verrotteter Stoff hatten sich wieder zusammengefügt zu Ottomanen und Sesseln. Sonnenlicht fiel durch hohe Fenster, die so schmutzig gewesen waren, dass ich gedacht hatte, sie wären geschwärzt.
Schließlich kamen wir in ein kleines Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses. »Pass auf ihn auf, während ich der Headmistress Bescheid sage«, forderte Emma Millard auf, und ich spürte, wie sich seine Hand um meinen Ellbogen schloss. Sobald Emma gegangen war, ließ er mich los.
»Hast du keine Angst, dass ich dein Gehirn verspeise?«, fragte ich ihn.
»Nein, nicht besonders.«
Ich wandte mich zum Fenster und blickte staunend hinaus. Der Hof war voller Kinder. Fast alle kannte ich von den vergilbten Fotos. Einige lümmelten im Schatten unter Bäumen, andere spielten Ball oder Fangen zwischen den Blumenbeeten, die ein einziges Farbenmeer bildeten. Es war genau jenes Paradies, das Großvater mir beschrieben hatte. Das war die verzauberte Insel, das waren die magischen Kinder. Falls ich träumte, wollte ich gar nicht mehr aufwachen – oder zumindest nicht so schnell.
Draußen auf dem Rasen schoss jemand den Ball zu fest. Er flog in eine riesige Formschnitthecke und blieb stecken. Mehrere dieser Kunstwerke standen in einer Reihe – haushohe, fantastische Kreaturen, wie Wachposten zum Schutz vor dem Wald –, einschließlich eines Greifvogels mit ausgebreiteten Schwingen, eines sich aufbäumenden Zentauren und einer Meerjungfrau. Auf der Jagd nach dem verlorenen Ball liefen zwei Jungs im Teenageralter zum Fuß des Zentauren. Ein junges Mädchen folgte ihnen. Ich erkannte sie sofort als das »schwebende Mädchen« von Großvaters Bildern, allerdings schwebte sie jetzt nicht. Sie ging langsam, setzte mühsam einen Fuß vor den anderen, als wäre sie mit einem Gewicht an den Boden gebunden.
Als sie bei den Jungen ankam, hob sie die Arme, und die beiden banden ihr ein Seil um die Taille. Vorsichtig schlüpfte sie aus ihren Schuhen und stieg auf wie ein Luftballon. Es war erstaunlich. Sie erhob sich, bis das Seil um ihre Taille straff gespannt war, und schwebte dann, gehalten von den beiden Jungen, drei Meter über dem Boden.
Das Mädchen sagte etwas. Die Jungen nickten und gaben etwas Seil nach. Langsam stieg das Mädchen neben dem Zentauren weiter auf. Als sie auf seiner Brusthöhe angelangt war, griff sie zwischen die Zweige, um den Ball herauszuholen. Aber er steckte zu tief drin. Sie sah hinunter und schüttelte den Kopf. Die Jungen holten sie mit dem Seil zurück auf den Boden. Sie zog sich wieder die beschwerten Schuhe an, und die Jungen lösten das Seil.
»Genießt du die Show?«, fragte Millard. Ich nickte schweigend. »Es gibt einfachere Möglichkeiten, den Ball zu holen. Aber sie wissen, dass ihnen jemand zusieht.«
Draußen näherte sich jetzt ein zweites Mädchen dem Zentauren. Sie zählte schon zu den älteren Teenagern und sah wild aus. Ihre Haare erinnerten an ein Vogelnest. Sie beugte sich hinunter, packte den blättrigen Schwanz der Hecke und wickelte ihn sich um den Arm. Dann schloss sie die Augen, als würde sie sich konzentrieren. Kurz
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