Die Insel der besonderen Kinder
waren unnatürlich verrenkt. Sein Rumpf war aufgerissen. Eis füllte den Raum, in dem sich einst seine lebenswichtigen Organe befunden hatten. Als wir zu seinem Gesicht vordrangen, sogen alle hörbar die Luft ein. Die eine Hälfte war eine purpurfarbene, in Fetzen herabhängende Masse. Die andere Hälfte war unversehrt genug, um Martin erkennen zu können: ein Kinn mit Bartstoppeln, Teile von Wange und Augenbraue und ein grünes Auge, angelaufen und ins Leere starrend. Er trug nur Unterhosen und die zerfetzten Reste eines Bademantels. So angezogen, wäre er niemals freiwillig mitten in der Nacht zu den Klippen gegangen. Jemand – oder etwas – hatte ihn dorthin geschleppt.
»Er ist schon in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls«, sagte Enoch und begutachtete Martin wie ein Chirurg, der einen hoffnungslos kranken Patienten untersucht. »Wenn wir Pech haben, funktioniert es nicht.«
»Wir müssen es versuchen«, sagte Bronwyn und trat tapfer wieder einen Schritt näher an die Wanne heran. »Damit der Ausbruch nicht umsonst war.«
Enoch öffnete seine Regenjacke, holte sein Päckchen heraus und entfernte das Tuch. Das Herz sah aus wie ein kastanienbrauner Fanghandschuh, der zur Faust geballt war. »Falls er aufwacht«, warnte Enoch uns, »wird er darüber nicht gerade glücklich sein. Haltet Abstand und behauptet hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«
Alle außer Enoch traten einen großen Schritt zurück. Er beugte sich über die Wanne und schob seine Hand in Martins Brustkorb. Er wühlte durch das Eis, als würde er eine Flasche Limonade in einer Kühlbox suchen. Nach einem Moment schien er etwas gepackt zu haben, denn er tastete nicht weiter und hob die andere Hand mit dem Schafherz über den Kopf.
Plötzlich verkrampfte sich Enochs Körper, und das Schafherz begann zu schlagen, versprühte einen feinen Nebel blutiger Formaldehydlösung. Enoch atmete schnell und flach. Er schien mit etwas Verbindung aufzunehmen. Ich suchte an Martins Körper nach Anzeichen von Bewegung, aber er lag reglos da.
Allmählich begann das Herz in Enochs Hand langsamer zu schlagen und zu schrumpfen. Seine Farbe verblasste zu einem schwärzlichen Grau, wie Fleisch, das zu lange im Kühlschrank gelegen hat. Enoch warf es auf den Boden und hielt mir seine leere Hand hin. Ich holte das Herz hervor, das ich in meiner Tasche aufbewahrte, und reichte es ihm. Er wiederholte die Prozedur. Das Herz pumpte und spritzte eine Weile, bevor es wie das andere zusammenfiel. Enoch versuchte es ein drittes Mal erfolglos, mit dem Herzen, das er Emma gegeben hatte.
Jetzt war nur noch Bronwyns Herz übrig – Enochs letzte Chance. Als er es über Martins eisigen Sarg hielt, nahm sein Gesicht einen Ausdruck neuer Intensität an, und er presste das Herz so fest zusammen, als wolle er seine Finger hindurchbohren. Das Herz begann zu zucken wie ein stotternder Motor. »Steh auf, toter Mann. Steh auf!«, rief Enoch.
Ich meinte, ein leichtes Zucken gesehen zu haben. Irgendetwas hatte sich unter dem Eis bewegt. Ich beugte mich weit vor, suchte nach Lebenszeichen. Einen Moment lang passierte gar nichts, aber dann bäumte sich Martins Körper so plötzlich und heftig auf, als hätte jemand tausend Volt durch ihn hindurchgejagt. Emma schrie auf, und wir sprangen alle zurück. Als ich mich wieder traute, hinzugucken, hatte Martin den Kopf in meine Richtung gedreht. Das getrübte Auge rollte wie verrückt, bis es sich fixierte – auf mich.
»Er sieht dich!«, rief Enoch.
Ich beugte mich vor. Der tote Mann roch nach feuchter Erde, Lauge und irgendetwas Fürchterlichem. Er hob eine Hand. Blau angelaufen, hing sie einen Moment lang zitternd in der Luft, bevor sie sich auf meinen Arm legte. Ich kämpfte gegen den Drang, sie abzuschütteln.
Martins Lippen öffneten sich, und der Kiefer klappte auf. Ich beugte mich vor, um ihn hören zu können, aber es kam nichts. Natürlich nicht, dachte ich, seine Lunge wurde zerrissen – aber dann sickerte doch ein schwacher Laut über die Lippen. Ich schob mich noch näher heran, berührte mit dem Ohr fast seine eiskalten Lippen. Seltsamerweise musste ich an die Regenrinne an unserem Haus denken. Wenn man den Kopf an das Metall legte und der Straßenverkehr einen Moment lang verebbte, konnte man das Flüstern eines unterirdischen Stroms hören. Er wurde zugeschüttet, als man die Stadt erbaute, aber er floss immer noch, gefangen in einer Welt ständiger Dunkelheit.
Die anderen drängten sich wieder an
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