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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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entschieden habt. Geht aus dem Weg!«
    Das taten wir, und er fuhr mit dem Lichtstrahl über Martins Körper, eine Landschaft grausiger Zerstörung. »Du meine Güte, der Fisch sieht aber komisch aus«, sagte er ungerührt. »Muss ganz frisch sein. Er zuckt ja noch!« Er leuchtete Martin ins Gesicht. Das Auge drehte sich nach oben fort, und die Lippen bewegten sich tonlos, ein letzter Reflex, während das Leben aus dem Körper wich.
    »Wer sind Sie?«, fragte Bronwyn.
    »Das kommt darauf an, wen du fragst«, antwortete der Mann. »Aber viel wichtiger ist, dass ich weiß, wer
ihr
seid.« Er richtete die Taschenlampe der Reihe nach auf uns und sprach, als würde er aus einer Personalakte vorlesen. »Emma Bloom, Funkenzünderin, ihre Eltern haben sie in einem Zirkus ausgesetzt, nachdem sie sie nicht an ihn verkaufen konnten. Bronwyn Bruntley, Berserkerin, kannte ihre eigene Stärke nicht, bis sie ihrem brutalen Stiefvater eines Tages das Genick brach. Enoch O’Connor, Totenaufersteher, in eine Familie von Leichenbestattern geboren, die nicht verstanden, warum ihnen dauernd die Kunden davonliefen.« Ich sah, wie die anderen erschrocken zurückwichen. Dann richtete er den Lichtstrahl auf mich. »Und Jacob. Welch sonderbaren Umgang du neuerdings pflegst.«
    »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    Er räusperte sich, und als er wieder sprach, hatte sich seine Stimme völlig verändert. »Hast du mich so schnell vergessen?«, fragte er mit New-England-Akzent. »Aber ich bin ja nur ein armer Busfahrer, an den du dich vermutlich nicht mehr erinnerst.«
    Es konnte nicht sein, aber er imitierte perfekt Mr. Barron, den Fahrer unseres Schulbusses in der Mittelschule. Ein übellauniger Typ, der wie ein Roboter am Steuer gesessen hatte. Wir hatten ihn so sehr gehasst, dass wir am letzten Tag der achten Klasse sein Jahrbuchfoto mit Heftklammern entstellten und es ihm hinter den Sitz legten. Ich dachte gerade daran, was er jeden Nachmittag gesagt hatte, wenn ich ausstieg, da säuselte der Mann vor mir: »Endstation, Portman!«
    »Mr. Barron?«, fragte ich zweifelnd und strengte mich an, sein Gesicht hinter dem Strahl der Taschenlampe zu erkennen.
    Der Mann lachte und räusperte sich wieder, veränderte erneut seinen Akzent. »Er – oder der Gärtner«, sagte er in der gedehnten Aussprache, die typisch war für Florida. »Ihre Bäume brauchen einen Schnitt. Ich mache Ihnen einen guten Preis!« Das war exakt die Stimme des Mannes, der jahrelang bei meiner Familie den Rasen gemäht und den Pool gereinigt hatte.
    »Wie machen Sie das?«, fragte ich. »Woher kennen Sie diese Leute?«
    »Weil ich diese Leute
bin
«, sagte er jetzt wieder ohne jeden Akzent. Er lachte und genoss offensichtlich mein hilfloses Entsetzen.
    Plötzlich fiel mir etwas ein. Hatte ich je Mr. Barrons Augen gesehen? Nein. Er trug immer diese riesigen, altmodischen Sonnenbrillen, die wie Scheuklappen das Gesicht verdeckten. Der Gärtner hatte ebenfalls immer eine Sonnenbrille aufgehabt – und einen breitkrempigen Hut. Hatte ich einen der beiden je genauer angesehen? Wie viele Rollen hatte dieses Chamäleon also in meinem Leben gespielt?

    »Was hat das zu bedeuten?«, rief Emma. »Wer ist dieser Mann?«
    »Halt die Klappe!«, blaffte er sie an. »Du kommst auch noch an die Reihe.«
    »Sie haben mich beobachtet«, sagte ich. »Sie haben die Schafe getötet und Martin ermordet.«
    »Wer,
ich?
«, entgegnete der Mann so unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben. »
Ich
habe niemanden umgebracht.«
    »Aber Sie sind ein Wight, nicht wahr?«
    »Das ist
deren
Bezeichnung für uns«, antwortete er.
    Ich verstand das alles nicht. Den Gärtner hatte ich nicht mehr gesehen, seit meine Mutter vor drei Jahren einen anderen eingestellt hatte. Und Mr. Barron war nach der achten Klasse aus meinem Leben verschwunden. Hatten sie – er – mich verfolgt?
    »Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?«
    »Aber, Jacob«, sagte der Mann, und seine Stimme veränderte sich schon wieder. »Du hast es mir doch selbst erzählt. Im Vertrauen natürlich.« Jetzt war es der weiche, gebildete Ton der konservativen Mittelschicht. Er drehte die Taschenlampe, so dass der Lichtkegel auf sein Gesicht fiel.
    Der Bart, den er noch am Vortag getragen hatte, war verschwunden. Es bestand kein Zweifel.
    »Dr. Golan.« Meine Stimme war ein Flüstern, das vom trommelnden Regen geschluckt wurde.
    Ich dachte an unser Telefongespräch vor wenigen Tagen. Der Lärm im Hintergrund – er hatte gesagt, er

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