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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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sei am Flughafen. Aber er war nicht dort, um seine Schwester abzuholen. Er hatte sich auf den Weg zu mir gemacht.
    Ich taumelte zurück, lehnte mich benommen gegen die Wanne. »Der Nachbar«, sagte ich. »Der alte Mann, der den Rasen gesprengt hat am Abend von Großvaters Tod. Das waren auch Sie.«
    Er lächelte.
    »Aber Ihre Augen …«
    »Kontaktlinsen«, antwortete er. Mit dem Daumen holte er eine Linse heraus und enthüllte den weißen Augapfel. »Erstaunlich, was man heutzutage alles herstellen kann. Und wenn ich ein paar deiner Fragen vorwegnehmen darf, ja, ich bin zugelassener Therapeut – die Psyche gewöhnlicher Menschen hat mich schon immer fasziniert –, und, nein, auch wenn du mich für jemand anderen gehalten hast, so glaube ich nicht, dass deine Sitzungen reine Zeitverschwendung waren. Ich kann dir auch weiterhin helfen – besser gesagt, wir können uns gegenseitig helfen.«
    »Bitte, Jacob, hör nicht auf ihn!«, flehte Emma.
    »Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Ich habe ihm einmal vertraut. Das passiert mir nicht wieder.«
    Golan fuhr fort, als hätte er mich nicht gehört: »Ich kann dir Sicherheit und Geld bieten. Ich kann dir dein Leben zurückgeben, Jacob. Du musst nur mit uns zusammenarbeiten.«
    »Mit uns?«
    »Malthus und mir«, sagte er und wandte den Kopf. »Komm und sag hallo, Malthus.«
    Im Türrahmen erschien ein Schatten, und nur einen Augenblick später schlug uns übler Gestank entgegen. Bronwyn würgte und wich einen Schritt zurück. Ich sah, wie Emma die Fäuste ballte, als spiele sie mit dem Gedanken, sich auf Golan zu stürzen. Ich berührte sie am Arm und formte mit den Lippen das Wort:
Warte.
    »Mehr will ich gar nicht von dir«, fuhr Golan fort und bemühte sich, überzeugend zu klingen. »Du sollst uns helfen, mehr von euch zu finden. Als Gegenleistung hast du nichts von Malthus und den anderen zu befürchten. Du kannst zu Hause leben. In deiner Freizeit begleitest du mich und lernst die Welt kennen. Wir werden dich anständig bezahlen. Deinen Eltern sagen wir, du wärst mein Forschungsassistent.«
    »Falls ich zustimme«, sagte ich, »was wird dann aus meinen Freunden hier?«
    Er winkte mit der Waffe ab. »Die haben sich schon vor langer Zeit entschieden. Wichtig ist nur, dass große Veränderungen anstehen und dass du daran teilhaben wirst.«
    Ob ich es in Erwägung zog? Einen Moment lang schon. Dr. Golan bot mir genau das an, wonach ich gesucht hatte: eine dritte Möglichkeit. Eine Zukunft, die weder darin bestand, für immer hierzubleiben – noch darin, umgebracht zu werden. Aber ein einziger Blick auf meine Freunde, in deren Gesichtern die nackte Angst stand, erstickte jegliche Versuchung im Keim.
    »Nun«, drängte Golan, »wie lautet deine Antwort?«
    »Lieber sterbe ich, als euch zu helfen.«
    »Schade«, sagte er, »aber du hast mir bereits geholfen.« Langsam wich er zur Tür zurück. »Es ist bedauerlich, dass wir keine weiteren Sitzungen mehr haben werden, Jacob. Aber es war auch nicht alles umsonst. Ihr vier zusammen dürftet genügen, um den alten Malthus endlich aus dieser Existenz zu befreien, in der er so lange gefangen war.«
    »O nein«, winselte Enoch. »Ich will nicht gefressen werden.«
    »Hör auf zu heulen, das ist würdelos«, blaffte Bronwyn ihn an. »Wir müssen die beiden nur töten, das ist alles.«
    »Ich wünschte, ich könnte bleiben, um mir das Schauspiel anzusehen«, sagte Golan von der Tür aus. »Das würde mir sicher gefallen!«
    Und dann war er verschwunden, und wir waren allein mit der Kreatur. Ich hörte, wie das Monster im Dunkeln schnaufte, es klang, als würde Schleim aus einem verstopften Rohr gepresst. Wir wichen wieder einen Schritt zurück, dann noch einen, bis wir mit dem Rücken an der Wand standen. Dicht gedrängt harrten wir dort aus wie Gefangene vor dem Exekutionskommando.
    »Ich brauche Licht«, flüsterte ich Emma zu, die offenbar so unter Schock stand, dass sie ihre Fähigkeiten vergessen hatte.
    In ihrer Hand loderten Flammen auf, und da sah ich es – zwischen den Wannen lauernd. Mein Alptraum. Vorgebeugt, haarlos und nackt. Fleckige, grauschwarze Haut hing in Fetzen an den Knochen, die Augen trieften in halbverwesten Höhlen, die Beine gebeugt, Füße wie Klumpen und die Hände zu nutzlosen Klauen gekrümmt. Alles an diesem Monster wirkte welk und verkümmert wie der Körper eines alten Mannes – bis auf eines. Seine übergroßen Kiefer beherbergten Zähne, die so lang und scharf waren wie Steakmesser. Die

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