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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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sie und hielt es weit von sich fort.
    »Krieg dich wieder ein, das ist nur ein Schafherz«, sagte Enoch und drückte mir ein ähnlich großes Päckchen in die Hand. Es stank nach Formaldehyd und fühlte sich durch das Tuch hindurch unangenehm feucht an.
    »Mir kommt das Essen wieder hoch, wenn ich das tragen muss«, sagte Bronwyn.
    »Das will ich sehen«, brummte Enoch und klang beleidigt. »Stopf es in deine Regenjacke und lass uns weitergehen.«
    Wir folgten dem unsichtbaren Band fester Erde durchs Moor. Ich war diesen Weg jetzt schon so oft gegangen, dass ich beinahe vergessen hatte, wie gefährlich er sein konnte, wie viele Leben dieses Moor im Laufe der Jahrhunderte verschlungen hatte. Als wir auf dem Hügel mit dem Steingrab angelangt waren, forderte ich die anderen auf, ihre Jacken zuzuknöpfen.
    »Was tun wir, wenn wir jemandem begegnen?«, fragte Enoch.
    »Verhaltet euch einfach ganz normal«, antwortete ich. »Ich werde sagen, dass ihr meine Freunde aus Amerika seid.«
    »Und wenn wir einen Wight sehen?«, fragte Bronwyn.
    »Dann rennt los.«
    »Und wenn Jacob einen Hollow sieht?«
    »In dem Fall«, antwortete Emma, »rennt ihr, als sei der Leibhaftige hinter euch her.«
    Wir duckten uns nacheinander in den Eingang des Steingrabs und verschwanden aus der lauen Sommernacht. Alles war still, bis wir die Kammer am Ende des Gangs erreichten. Dann fiel die Temperatur, und brüllend brach der Sturm los. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns diesem Ungeheuer anzubieten. Die Sterne waren hinter schweren Gewitterwolken verborgen, der Regen peitschte, und eisiger Wind zerrte an unseren Jacken. Im Licht der Blitze leuchteten unsere Gesichter kalkweiß und ließen die folgende Dunkelheit noch schwärzer wirken. Emma versuchte, eine Flamme zu entzünden, aber es war wie bei einem kaputten Feuerzeug – jeder Funke ihres Handgelenks erlosch zischend, bevor er zünden konnte. Wir hüllten uns fest in unsere Jacken und liefen gebeugt durch den Sturm und das aufgequollene Moor, das an unseren Füßen zog.
    Im Ort trommelte der Regen gegen die Türen und Fenster. Die Bewohner hatten sich in ihren Häusern eingeschlossen, und so liefen wir unbemerkt durch die aufgeweichten Straßen, vorbei an zerbrochenen Dachpfannen, die der Wind abgerissen hatte, vorbei an einem einsamen, regenblinden Schaf, das sich verirrt hatte und schrie, vorbei an einem umgekippten Klohäuschen, das über die Straße rollte, bis zur Fischhandlung. Die Tür war verschlossen, aber mit zwei dumpfen Tritten stieß Bronwyn sie auf. Nachdem Emma ihre Hand innen an der Jacke trockengewischt hatte, war sie endlich in der Lage, ein Licht zu entzünden. Aus den Vitrinen starrten uns die toten Augen der Fische an. Ich führte die anderen durch den Laden bis zu einer rostigen Metalltür.
    Dahinter befand sich ein kleiner Kühlraum, nicht mehr als ein Anbau aus Lehmboden und Wellblechdach. Die Wände bestanden aus groben Holzplanken. Das Holz war gesplittert wie schlechte Zähne und ließ den Regen durchsickern. Ein Dutzend rechteckige, mit Eis gefüllte Wannen auf Sägeböcken drängten sich in dem Raum.
    »In welcher liegt er?«, fragte Enoch.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich.
    Während wir zwischen den Wannen hindurchgingen und versuchten herauszufinden, in welcher mehr als nur tote Fische lagen, leuchtete Emma uns den Weg. Die Wannen sahen alle gleich aus, wie Särge ohne Deckel, aber voller Eis. Um den Toten zu finden, würden wir sie durchsuchen müssen.
    »Ohne mich«, sagte Bronwyn. »Ich will ihn nicht sehen. Ich mag keine Leichen.«
    »Ich auch nicht, aber wir haben keine Wahl«, entgegnete Emma. »Wir ziehen das gemeinsam durch.«
    Jeder von uns suchte sich eine Wanne aus und wühlte sich hinein wie ein Hund, der ein Blumenbeet durchpflügt. Mit beiden Händen schöpften wir Berge von Eis auf den Boden. Ich hatte meine Wanne gerade zur Hälfte geleert und allmählich kein Gefühl mehr in den Fingern, als ich Bronwyn schreien hörte. Rasch drehte ich mich um und sah, wie sie von ihrer Wanne zurückwich und die Hände vor den Mund schlug.
    Wir drängten uns um die Wanne, um zu sehen, was sie gefunden hatte. Aus dem Eis ragte eine behaarte, knochige Hand.
    »Sieht so aus, als hättest du den Mann gefunden«, sagte Enoch. Wir spähten ängstlich durch die gespreizten Finger, während Enoch weiteres Eis wegkratzte und langsam erst einen Arm, dann den Rumpf und schließlich Martins ganzen Körper freilegte.
    Der Anblick war grauenhaft. Martins Glieder

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