Die Insel der besonderen Kinder
die Wanne, aber ich war der Einzige, der den toten Mann hören konnte. Das Erste, was er sagte, war mein Name.
»Jacob.«
Angst jagte durch mich hindurch. »Ja?«
»Ich war tot.« Die Worte kamen langsam, tröpfelten wie Sirup. Er korrigierte sich. »Ich bin tot.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte ich. »Können Sie sich erinnern?«
Es folgte eine Pause. Der Wind pfiff durch die Ritzen der Wände. Martin sagte etwas, aber ich verstand ihn nicht.
»Sagen Sie es noch einmal. Bitte, Martin.«
»Er hat mich getötet«, flüsterte er.
»Wer?«
»Mein Alter Mann.«
»Meinen Sie Oggie? Ihren Onkel?«
»Mein Alter Mann«, sagte er noch einmal. »Er wurde groß. Und stark, so stark …«
»Wer hat das getan, Martin?«
Er schloss die Augen, und ich fürchtete, er wäre wieder von uns gegangen. Ich blickte zu Enoch. Der nickte. Das Herz in seiner Hand schlug noch.
Martins Auge zuckte unter dem Lid. Er begann erneut zu sprechen, langsam, aber gleichmäßig, als würde er etwas aufsagen. »Hundert Generationen hat er geschlafen, zusammengerollt wie ein Fötus im geheimnisvollen Grab der Erde, von Wurzeln überwuchert, in der Dunkelheit gärend, Früchte des Sommers konserviert und vergessen in der Speisekammer, bis des Farmers Spaten ihn hervorbrachte, rauher Geburtshelfer einer sonderbaren Ernte.«
Martin machte eine Pause. Seine Lippen zitterten. Emma sah mich an und flüsterte: »Was sagt er da?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Es klingt wie ein Gedicht.«
Er fuhr fort, mit bebender Stimme, aber laut genug, dass ihn alle hören konnten. »Dunkel ruht er hier, das zarte Gesicht wie von Ruß geschwärzt, die Glieder verdorrt zu Kohleadern, Fußklumpen wie Treibholz, behängt mit verschrumpelten Rosinen.« Und da erkannte ich das Gedicht. Es waren die Zeilen, die Martin über den Moorjungen geschrieben hatte.
»Oh, Jacob, ich habe so gut auf ihn aufgepasst!«, wisperte er. »Die Scheibe geputzt, die Erde gewechselt und ihm ein Zuhause gegeben – als wäre er mein eigenes, geschundenes Kind. Ich habe mich so um ihn gesorgt, aber …« Er begann zu zittern. Eine Träne lief ihm über die Wange und gefror. »Aber er hat mich getötet.«
»Meinen Sie den Moorjungen? Den Alten Mann?«
»Schick mich zurück«, flehte er. »Es tut weh.« Seine kalte Hand krallte sich in meine Schulter, und seine Stimme wurde schwächer.
Ich sah Enoch hilfesuchend an. Der drückte das Herz noch fester und schüttelte dann den Kopf. »Beeil dich, Kumpel«, sagte er.
Und dann verstand ich plötzlich. Martin beschrieb zwar den Moorjungen, aber nicht der hatte ihn umgebracht. Für andere werden sie nur sichtbar, wenn sie essen, hatte Miss Peregrine gesagt. Und dann ist es zu spät. Martin hatte einen Hollowgast gesehen – nachts, im Regen, während der ihn in Stücke riss – und hatte ihn mit seinem kostbarsten Exponat verwechselt.
Die alte Angst stieg in mir hoch, brannte wie Feuer in meinen Eingeweiden. Ich wandte mich den anderen zu. »Das war ein Hollowgast«, sagte ich. »Er ist irgendwo auf der Insel.«
»Frag ihn, wo«, forderte Enoch mich auf.
»Wo, Martin? Ich muss wissen, wo Sie ihn gesehen haben.«
»Bitte. Es tut weh.«
»Wo haben Sie ihn gesehen?«
»Er kam an meine Tür.«
»Der Alte Mann?«
Sein Atem ging stoßweise, und sein Auge schien sich auf etwas hinter mir zu richten.
»Nein«, sagte Martin. »
Er
war es.«
Und dann fuhr ein Lichtschein über uns, und eine laute Stimme bellte: »Wer ist da?«
Emma schloss die Hand, und die Flamme erlosch zischend. Wir wirbelten herum und sahen einen Mann im Türrahmen stehen, eine Taschenlampe in der einen Hand und eine Pistole in der anderen.
Enoch riss den Arm aus dem Eis, während sich Emma und Bronwyn so vor die Wanne stellten, dass der Blick auf Martin versperrt war. »Wir sind keine Diebe«, sagte Bronwyn, »und wir wollten gerade wieder gehen, ehrlich!«
»Bleibt, wo ihr seid!« Die Stimme des Mannes klang akzentfrei und seltsam monoton. Hinter dem Lichtschein vermochte ich sein Gesicht nicht zu erkennen, aber die vielen Jacken, die er übereinandertrug, verrieten ihn. Es war der Ornithologe.
»Mister, wir hatten den ganzen Tag noch nichts zu essen«, winselte Enoch und klang zum ersten Mal wie ein Zwölfjähriger. »Wir sind nur hergekommen, um uns einen kleinen Fisch zu holen, das schwöre ich!«
»Tatsächlich?«, entgegnete der Mann. »Sieht so aus, als hättet ihr euch einen ausgesucht. Lasst mal sehen, wofür ihr euch
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