Die Insel der Krieger
Kaya zugestoßen war, konnte jedem anderen auch widerfahren. Im Augenblick war Nalig sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Reihe an ihm war. »Was sollen wir jetzt tun? « , stellte Thorix die Frage in den Raum, die allen auf der Zunge lag. Ratlose Gesichter säumten die Tafel. »Wenn die Ferlah kommen, sollten wir zumindest gewarnt sein«, ergriff Nalig beherzt das Wort. »Einer von uns sollte immer das Ufer in Richtung Eda b e wachen. Wenn die Ferlah kommen, dann müssen sie über den See. Wir werden sie sehen, lange bevor sie hier sind. Wer die Wache hat, kann dann zum Tempel zurückfliegen und die anderen warnen. Nachts, wenn die Sicht schlechter ist, sollten immer zwei Krieger Wache ha l ten. Dann kann einer die übrigen alarmieren, während der andere versucht, etwas Zeit zu gewinnen. « »Ob wir nun gewarnt sind oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass hier nur noch sechs Krieger sind. Wenn sie nach Kijerta kommen, dann sind wir verloren«, erw i derte Rigo resigniert. Aro nickte. Nalig senkte den Kopf. »Ich finde, Nalig hat Recht«, erwiderte hingegen Thorix mit Bestimmtheit. »Was heute auf dem Festland passiert ist, war schrecklich und unsere Lage ist ohne jeden Zweifel schlechter denn je. Aber ich habe keine Lust, hier zu sitzen und nichts zu tun, bis die Ferlah an unsere Tür klopfen. Solange niemand eine bessere Idee hat, würde ich sagen, tun wir genau das, was Nalig gesagt hat. Ich übernehme die erste Wache. « Damit verschwanden Thorix und Kazard. Durch Thorix’ Handeln aus ihrer Erstarrung gerissen, murmelten auch die Übrigen zustimmend und standen auf.
Die folgenden Tage verliefen ohne besondere Zwischenfälle. Wie Nalig vorgeschlagen hatte, hielten immer ein Krieger am Tag und zwei in der Nacht Wache am Ufer von Kijerta. Die Krieger wechselten sich immer wieder ab, sodass jeder ausreichend Zeit zum Schlafen hatte. Kaya hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie aß nicht und reagierte nicht auf das Klopfen an ihrer Tür. Gewiss hatte Nalig Ve r ständnis für sie. Wenn er sich vorstellte, Merlin zu verlieren, krampfte sich alles in ihm zusammen und das, obwohl er nicht annähernd so viel mit ihm durchgestanden hatte wie Kaya mit Kartax. Und dennoch beunruhigte das Gebaren der Göttin alle Inselbewohner. Nalig litt besonders unter der Tatsache, dass überhaupt nichts geschah. Da Kartax nicht mehr Alarm schlagen konnte, wenn etwas auf dem Fes t land nicht stimmte und Kaya nicht aus ihrem Zimmer kam, um in den Spiegelsaal zu gehen, verließen sie die Insel nicht. Gemeinsame Mah l zeiten gab es nicht mehr und so saß Nalig, wenn er nicht gerade W a che hielt, meist schweigend mit Arkas, Ilia und Zalari beisammen und grübelte über die aussichtslose Lage.
Am fünften Tag nach Kartax’ Tod machte sich Nalig auf, um mit Stella Wache zu halten. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie vor fünf Tagen den Speisesaal verlassen hatte. Die Aussicht darauf, die nächsten Stunden gemeinsam mit ihr am Ufer des Sees zu verbringen, besserte seine Stimmung etwas. Als er schon auf dem Innenhof stand und im Begriff war, Merlin zu seiner Verwandlung zu verhelfen, fiel ihm ein, dass er nicht bei Ilia gewesen war. Das Mädchen hatte ihm das Versprechen abgenommen, dass er sich stets vor dem Antritt seines Wachdienstes bei ihm verabschiedete. Mit entsetzlich schlec h tem Gewissen eilte er zur Kammer neben der Küche, wo er Ilia einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte und sie in die Arme schloss. »Gib auf dich Acht«, mahnte sie wie jedes Mal. »Mach dir keine So r gen«, erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Ufer. Rigo, der die letzte Wache gehabt hatte, saß müde auf dem Rücken seiner Schildkröte und blickte über den See. »Irgendetwas Verdächtiges? « , fragte Nalig. »Nein, nichts. Soll ich hierbleiben, bis Stella kommt, oder kann ich zurück zum Tempel? « »Geh ruhig«, meinte Nalig mit einem Blick in Rigos umschattete Augen. Das gelbe Licht der Schildkröte verschwand über den Bäumen und der Junge landete am Ufer. Es hatte gerade begonnen, Nacht zu werden. Die Vögel im Wald zwi t scherten in der Dämmerung und das Wasser schwappte murmelnd ans Ufer. Eigentlich war es ein friedlicher Abend, wäre da nicht die Angst gewesen, dass mit der Nacht auch die Ferlah über Kijerta kamen. Nalig ließ die Gedanken schweifen und sie landeten bei Stella. Er wusste noch immer nicht recht, was er von ihr halten sollte. Ihre Demütigu n gen während ihres Trainings hatte er
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