Die Insel der Krieger
keineswegs vergessen. Doch schien die Stella, die ihn verspottet und verhöhnt hatte, eine ganz andere zu sein als jene, die ihn im Wald geküsst hatte. Er konnte kaum glauben, dass seither schon fünf Tage vergangen waren. Noch immer hatte er ihr von nassem Haar umrahmtes Gesicht vor Augen, spürte ihre Lippen auf seinen und ihren Atem auf der Haut. Es kam ihm noch so gegenwärtig vor, dass sie ihn angesehen und gesagt hatte: »Was bist du denn für ein Wächter? « Nalig machte vor Schreck einen Satz in die Luft. »Du hörst und siehst nichts. « Stella und Aila standen hinter ihm. Das Mädchen sah belustigt aus. Nalig hatte sie in der Tat nicht kommen hören. »Genau aus diesem Grund sind wir ja zu zweit«, erwiderte er verlegen und war heilfroh, dass sie seine Gedanken nicht kannte. »Bisher ist noch kein Ferlah hier aufgetaucht«, stellte sie dann mit einem Blick in den Himmel fest und wurde wieder ernst. »Ich bin nur nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen ist«, zweifelte Nalig. Sie setzten sich ans Ufer. Eine Weile blickten beide stumm auf das fu n kelnde Wasser hinaus. Es war kein unangenehmes Schweigen. »Glaubst du, dass wir es schaffen? « , fragte Stella, als die Sonne schon tiefer stand. »Dass wir was schaffen? « »Na, die Ferlah zu besiegen. « Nalig überlegte. »Zumindest habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. « Stella war offenbar weniger zuversichtlich. »Ich habe viel darüber nachgedacht, wie der Kampf bisher verlaufen ist. Ich weiß nicht, ob ich noch Hoffnung auf einen Sieg habe. Wenn die Ferlah nach Kijerta kommen und uns alle töten, dann wird es nie jemand erfahren. Niemand wird um uns trauern. Wir wären einfach verge s sen. « Bei diesen Worten wurde auch Nalig schwer ums Herz. Doch nun, da er kaum eine Handbreit neben Stella saß und sich so lebendig fühlte, wollte er sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die Ferlah kamen. »Vielleicht solltest du zu uns anderen in den Tempel kommen. Dann hättest du nicht so viel Zeit, über solche Dinge nac h zudenken«, versuchte er Stella abzulenken. Sie sah ihn aus traurigen Augen an und schüttelte den Kopf. »Ich habe im Tempel keinen Platz. Ich gehöre einfach nicht dazu. « »Du gehörst genauso dazu wie jeder andere auch. « »Niemand von den anderen schert sich um mich. « »Das ist nicht wahr. Und wenn doch, liegt es alleine daran, dass du dich von uns allen absonderst. Ich weiß überhaupt nichts über dich. Wie soll ich also versuchen, dich zu verstehen? « Nalig war nicht sicher, ob es an ihrer Zweisamkeit lag oder an der untergehenden Sonne, welche die unglaublichsten Farben an den Horizont malte, jedenfalls sprach Stella so viel wie noch nie. Über ihr Leben auf dem Festland, wie sie immer im Schatten ihrer älteren Geschwister gestanden hatte, über den fr ü hen Tod ihrer jüngeren Schwester, darüber, wie sie nach Kijerta ger u fen worden war, wie sie alle darum beneidet hatten und wie in ihr die Hoffnung aufgekeimt war, dass auf der Insel alles besser würde. Nalig lauschte, als erzähle sie von Abenteuern. Und ehe er sich versah, lagen sie sich in den Armen. »Aber hier hat sich gar nichts verändert. Auch hier musste ich mir immer alles erkämpfen. Und meine Familie hat es nicht einmal gekümmert, dass ich weg war. Ein paar Monate, nachdem ich auf die Insel kam, hatte ich in Syri zu tun und habe das Haus me i ner Familie besucht, um zu sehen, ob sie zurechtkommen. Du hättest denken können, dass es mich niemals gegeben hat. « Um sie her nahm die Dunkelheit zu. »Mir wäre es nicht egal, wenn du weg wärst. Ich würde um dich trauern«, meinte Nalig, lange nachdem Stella ve r stummt war und gerade als der letzte Sonnenstrahl erlosch. Es war zu dunkel, um Stellas Miene zu deuten. Doch sie reckte den Hals und gab ihm einen langen Kuss. Und es sollte nicht bei diesem einen bleiben, ehe Aro am nächsten Morgen kam, um sie abzulösen.
Stella flog zu ihrem Unterschlupf im Wald und Nalig kehrte zum Tempel zurück. Kaum war das Mädchen außer Sicht, fühlte der Junge sich seltsam leer. Zudem begann sein Gewissen ihn zu tadeln, insb e sondere, als er auf dem Innenhof landete und Ilia dort stehen sah. Das Mädchen schritt auf ihn zu und sah seine Rückkehr mit Erleichterung. »Was machst du denn hier draußen? « , fragte Nalig. »Ich habe auf dich gewartet, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. « »Es geht mir gut«, versicherte Nalig und erwiderte Ilias Umarmung nur flüchtig, als fürchte er, sie könne Stellas
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