Die Insel der Krieger
damals noch nicht existiert. Jeder kämpfte gegen jeden. Es war ein entsetzliches Blutvergießen. « Kaya wies auf die Darstellung einer Schlacht, die sich über den gesamten mittleren Teil der Decke erstreckte. Menschen prügelten aufeinander ein, teils mit Waffen, teils mit bloßen Fäusten. Es war eine verworrene Kampfszenerie, doch durch die farbenfrohe Gestaltung war Nalig bislang nie aufgefallen, welche Grausamkeiten das Gemälde barg. »Das Elend unter den Me n schen war so groß, dass der Urvater der Götter beschloss, menschliche Gestalt anzunehmen und in die Kämpfe einzugreifen. Er wählte das erste Tier, das ihm begegnete – einen Falken – zu seinem Begleiter und das Erste, was der Falke berührte, zu seiner Waffe. « Nalig betrachtete das Bild an der Decke, das einen Mann zeigte, dessen Haupt von e i nem Falken umkreist wurde. Es war der Ausschnitt, den ihm das Or a kel gezeigt hatte. In seiner Hand hielt der Mann einen einfachen Stab aus Holz. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir die Geschichte bekannt vorkommt«, stellte Nalig fest. »Es gibt da in der Tat einige erstaunliche Parallelen«, bestätigte Kaya. »Als der Urvater der Götter zum Menschen wurde, gab er sich den Namen Marik. Nach ihm ist mein Vater benannt. « Nalig nickte langsam. Allmählich ergab alles einen Sinn. Nach und nach fügten sich die Bruchstücke dessen, was das Orakel gesagt hatte, zusammen. Und der Junge kam nicht umhin, die Gemeinsamkeiten zu bemerken, die zwischen dem Marik auf dem Wandgemälde, dem Gott Marik von vor 800 Jahren und ihm selbst bestanden. »Welche Art von Begleittier hatte eigentlich Euer Vater? « , wollte Nalig wissen. Kaya sah ihn verwundert an. »Ich dachte, das wüsstest du. Du hast sein Tagebuch gelesen. « »Ja. Aber darin stand nicht, welches Tier sein Begleiter war, sondern nur, dass sein Name Merlin war. « Für einen Augenblick wirkte Kaya verwirrt. Dann begriff sie, welcher Irrtum Nalig unterlaufen war. »Der Begleiter meines V a ters hieß nicht Merlin, sondern war ein Merlin«, berichtigte sie ihn. Nalig blickte sie verständnislos an. »Ein Merlin ist auch ein Falke«, klärte sie den Jungen auf. »Deutlich kleiner als ein Turmfalke, wie dein Begleiter einer ist. Es war bei den Göttern von damals nicht üblich, ihren Begleittieren Namen zu geben. Kartax ist da eine Ausnahme. « Jetzt verstand auch Nalig. Er musste sich verlesen haben, als er damals das uralte Tagebuch zur Hand genommen hatte, um mehr über Marik zu erfahren. »Wie geht die Geschichte des Urvaters der Götter weiter? « Kaya deutete auf die Wand gegenüber. Dort war eine wunderschöne blonde Frau abgebildet, die, umgeben von Schafen, auf einer Weide saß. Auch sie hatte Nalig im Wasser des Orakels gesehen. »Nachdem Marik zum Menschen geworden war, war er denselben Emotionen unterworfen wie jeder andere Mensch. Er verliebte sich in eine Sterbl i che namens Kijerta. « Unwillkürlich fragte sich Nalig, weshalb Hato in all den Geschichtsstunden, in denen er sie mit den unwesentlichsten Dingen aus den letzten Jahrhunderten der acht Königreiche gel a ngweilt hatte, niemals ein Wort darüber verloren hatte. »Um seine G e liebte vor dem Unheil zu schützen, erschuf Marik diese Insel und brachte sie hierher. Die Insel ist noch heute nach ihr benannt. Obwohl Marik eine Reihe von Zaubern wirkte, welche die Insel bis heute schützen, gelangte etwas Böses hierher und bedrohte das Leben der jungen Frau. Marik eilte ihr zu Hilfe, nachdem er die Zwietracht unter den Menschen beigelegt hatte. Er besiegte die böse Macht und starb dabei. Kijerta war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Ihre Kinder wu r den die Götter der Insel und wachten fortan über die Menschen auf dem Festland. Bis ihre Nachkommen vor 800 Jahren von hier ve r schwanden. Den Rest der Geschichte kennst du. « Nalig hatte Kayas Schilderungen anhand der Bilder auf den Wänden verfolgt. Nachdem er sich dabei einmal im Kreis gedreht hatte, betrachtete er nun das Bild der blonden Frau, wie sie im Kreise von vier Kindern eine Blume an Mariks Grab niederlegte. Links der Abbildung sah er noch, wie Marik seinen Stab erhob und sein Falke über ihm kreiste und feindselig gen Boden blickte. Worauf sein Blick gerichtete war und wogegen Marik seinen Stab erhob, sah Nalig nicht. Denn an der Stelle stand das B ü cherregal, eines von drei Möbelstücken im ganzen Saal. »Weshalb steht das Regal an dieser Stelle? « , fragte Nalig, der dabei nicht an einen Z u fall glaubte. »Soweit
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